Don’t judge a Book by it’s Cover
Meine achtmonatige Rucksackreise im Jahr 2009 und 2010 war ein unvergessliches Abenteuer. Mit dem Auto bis Finnland, mit der Transsibirischen Eisenbahn weiter durch Russland und die Mongolei bis nach Peking. Weiter durch die meisten südostasiatischen Länder und zum Abschluss zwei Monate durch Indien und einen Monat in Myanmar.
Wenn Du mich aber fragst: „Hand aufs Herz, Mark: Kennst Du diese Länder?“, lautet meine ehrliche Antwort: „Nein, das tue ich natürlich nicht.“
Ich habe auf dieser Reise mehr über mich gelernt als über die Länder, die ich besucht habe. Wie soll es auch anders sein, meine längste Aufenthaltszeit an einem Ort betrug zweieinhalb Wochen.
An Urteilen war ich damals jedoch nicht sparsam: „Die Inder sind so und die Russen so. Die Vietnamesen bevorzugen dies, während die Indonesier vorrangig jenes bevorzugen.“ Der Begriff „undifferenziert“ trifft es vermutlich am besten.
Und weißt Du was? Ähnlich undifferenziert sind die meisten Urteile über die Systemtheorie.
Kaum jemand unterzieht sich der Anstrengung, sich in die Tiefen der Systemtheorie einzugraben, geschweige denn die Primärliteratur zu lesen. Kein Wunder, die Werke von Luhmann & Co. sind nicht nur ein Augenöffner, sondern auch eine wahre Zumutung.
Und so haben sich einige Irrtümer über die Systemtheorie verbreitet. Hier die sechs, die mir am häufigsten begegnen.
Irrtum 1: Die Systemtheorie leugnet die Bedeutung des Menschen
Es ist nicht nur ein Gerücht, sondern ein regelrechter Vorwurf an die Systemtheorie. Menschen seien angeblich unwichtig, vernachlässigbar, austauschbar. Deshalb brauche man sich für sie nicht zu interessieren.
Was die Systemtheorie eigentlich sagt
So wie ein Brettspiel nicht aus den Spielern, sondern aus den ausgesprochenen und unausgesprochenen Regeln besteht, besteht ein soziales System nicht aus Menschen, sondern aus den ausgesprochenen und unausgesprochenen Verhaltenserwartungen. An denen orientieren wir uns nicht nur, sondern sie prägen auch, wie unser Verhalten interpretiert wird.
Beispiel: Wenn im Kino alle schweigen, schweigst Du mit großer Wahrscheinlichkeit auch. Denn Du orientierst Dich an den Verhaltenserwartungen. Würdest Du hingegen permanent mit Deinem Nachbarn tuscheln, würde das als Unanständigkeit quittiert. Dein Verhalten wird also im Kontext des Kinos interpretiert. Im Fußballstadion wäre das ja kein Problem.
Zu wissen, welchen Verhaltenserwartungen wir ausgesetzt sind, gibt uns Sicherheit. Deshalb tasten wir unser Umfeld unterbewusst laufend nach Hinweisen ab, die uns darüber informieren, welchem „sozialen Spiel“ wir gerade ausgesetzt sind.
„Ob ich mich in diesem Meeting wohl an den Kopf des Tisches setzen kann? Ah, ist ein Workshop (ein soziales Spiel), kein formaler Jour Fix (ein anderes soziales Spiel). Dürfte angemessen sein, ich mach’ es mal.“
Bloß, nur weil ein soziales System (Verein, Unternehmen, Familie etc.) nicht aus Menschen besteht, heißt das nicht, dass Menschen keinen Einfluss auf diese Systeme haben.
Tendenziell gilt: Je größer ihr Ansehen bzw. ihre zugeschriebene Macht, desto stärker ihr Einfluss. Wenn Hannes der neue Praktikant ist und Judith die Abteilungsleiterin, dann macht es einen Unterschied, ob Hannes oder Judith einen Wunsch äußert. Auch, wenn der Wunsch derselbe ist und sie sich identisch ausdrücken.
Praxisbeispiel
In einem Beratungsprojekt hatten wir schnell den Verdacht, dass die Familienkonstellation der Inhaberfamilie und die individuellen Motive und Überzeugungen der am Unternehmen beteiligten Familienmitglieder eine große Rolle spielen. Wir haben deshalb zu Beginn geklärt, ob wir auch ein Mandat haben, mit ihnen darüber zu sprechen.
Es folgte ein intensiver Austausch über Wünsche, Motive, Bedürfnisse, Überzeugungen usw. Wo sich Widersprüche auftaten, haben wir sie thematisiert.
Warum entsteht der Irrtum?
In vielen Alltagssituationen wird der Einfluss des sozialen Spiels kolossal unterschätzt, während der Einfluss von Persönlichkeitsmerkmalen hoffnungslos überschätzt wird.
Systemtheoretiker neigen deshalb dazu, ein Gegengewicht zu bilden, um der vernachlässigten Seite eine Stimme zu geben.
Auf Plattformen wie LinkedIn, wo Aufmerksamkeitsspannen kurz sind, geht die Sensibilisierung für den Systemeinfluss dann häufig auf Kosten der Differenzierung. Ich bekenne mich schuldig.
Irrtum 2: Die Systemtheorie sagt, eine Unternehmenskultur könne nicht verändert werden
Es kursiert der Eindruck, Systemtheoretiker hielten es für Teufelszeug, auf die Unternehmenskultur einwirken zu wollen.
Was die Systemtheorie eigentlich sagt
In Organisationen treffen Menschen auf Erwartungen, die ihr Verhalten prägen (siehe oben). Manche dieser Erwartungen werden durch formale Strukturen (Aufbauorganisation, Prozesslandschaften, Richtlinien, Zielsysteme, Budgetierungsrituale, Arbeitsplatzgestaltung etc.) geschaffen.
Diese formalen Strukturen können gezielt verändert werden, vorausgesetzt man hat ausreichend formale Macht.
Beispiel: Eine Provisionsregelung kann verändert oder abgeschafft werden.
Es gibt aber auch Strukturen, die sich der direkten Gestaltung entziehen. Dazu gehören die ungeschriebenen Normen, Alltagsüblichkeiten, Gepflogenheiten usw. Diese entwickeln sich hinter dem Rücken der Akteure. Sie sind nicht entscheidbar. Aber sie beeinflussen ebenfalls das Verhalten.
Beispiel: Wenn es als unanständig gilt, Konflikte offen auszutragen, dann führt die Aufforderung zu mehr Freude am Konflikt nicht zielsicher zu mehr Konfliktfreude. Im Gegenteil, womöglich werden Konflikte damit zu einer noch heißeren Kartoffel.
Wer sich an der Systemtheorie orientiert, würde also nicht versuchen, gezielt auf diese unentscheidbaren Faktoren einzuwirken. Stattdessen untersuchen wir den Nährboden und die Funktion einer bestimmten Kultur. Wenn dieser Nährboden sich ändert, ändert sich auch die Kultur.
Jedem Systemtheoretiker ist klar: Über ungeschriebene Normen zu reden, kann sie bereits verändern. Die Etikette zu thematisieren, prägt die Etikette. Ein Muster aufzudecken, kann das Muster verstärken oder schwächen. Niemand kann wissen, wie sich Eingriffe genau auswirken, aber jede öffentlich geäußerte Beobachtung und jeder Eingriff haben eine Wirkung.
Praxisbeispiel
In einem Beratungsprojekt haben wir aufgezeigt, wie bestimmte Strukturen mit einer Egoismuskultur zusammenhängen. Dadurch, dass Tabus besprechbar wurden, konnte nun gemeinsam an der Ursache gearbeitet werden. Denn es gab ein geteiltes Bild, eine geteilte Wahrheit, eine Art Wirklichkeitskonstruktion, die Entscheidungen legitimiert hat. Wie sich die Kultur entwickelt, mussten wir dann neugierig beobachten. Denn bestimmen konnten wir das Ergebnis nicht. Anders als bei formalen Strukturen.
Warum entsteht der Irrtum?
Wie auch bei dem ersten Irrtum wird die Differenzierung häufig überhört oder kommt schlicht zu kurz. Aus der Aussage, es könne nicht gezielt an der Unternehmenskultur gearbeitet werden, wird schnell „Die Unternehmenskultur ändert sich nicht“ oder „Auf die Unternehmenskultur kann man nicht einwirken“.
Und um diesen Irrtum direkt wieder zu schüren, hier ein kurzes Erklärvideo über die Zusammenhänge von Kultur und Struktur.
Irrtum 3: Die Systemtheorie ist nur eine Organisationstheorie
Viele scheinen zu denken, die Systemtheorie beschäftige sich nur mit Organisationen. Wie Menschen funktionieren, sei Sache der Psychologie oder Biologie.
Was die Systemtheorie eigentlich sagt
Wie der Name sagt, es geht immer um Systeme. Aber neben sozialen Systemen gibt es auch psychische und biologische Systeme. Alle drei sind operativ geschlossen, das heißt, sie funktionieren jeweils nach eigenen Regeln und Strukturen, stehen aber in einer strukturellen Kopplung zueinander – sie beeinflussen sich also gegenseitig, ohne sich direkt zu steuern.
Präziser: So wie ein soziales System nicht aus Menschen besteht, besteht ein Körper nicht aus Zellen und eine Psyche nicht aus Gehirnmasse. Jedenfalls nicht durch die Brille der Systemtheorie.
Stell’ Dir diese Systeme vor, wie Kreise in einer Mindmap. Wenn Dich ein Unternehmen (soziales System) interessiert, dann ist dieser Kreis im Mittelpunkt. Aber Du kannst auch ein psychisches System in den Mittelpunkt rücken. Dann sind die vielen sozialen Systeme die Umwelt.
Beispiel: Meine Psyche ist umgeben von zahlreichen sozialen Systemen. intrinsify, meine Familie, mein alter Freundeskreis aus der Schule, mein Jiu-Jitsu Verein, meine Padel-Tennis-Gruppe usw.
Meine Psyche besteht „nur“ aus Gedanken, die sich aneinander anreihen. Diese Gedanken erzeugen sich selbst und bilden über Selbstbeobachtungsvorgänge das, was wir das Selbst nennen.
Wer mir helfen will, mein Selbst zu verstehen, ist mit der Systemtheorie gut aufgestellt. Sie kann beschreiben, wie Gedankenschleifen entstehen, warum unsere Persönlichkeit immer gespalten ist und wozu das führt, wie spirituelle Erfahrungen erklärt werden können usw.
Und biologische Systeme? Gleiches Prinzip: Sie sind Umwelt der Psyche. Meine Gefühle werden von biochemischen Vorgängen erzeugt, nicht von Gedanken. Da die Psyche aber eine hochrelevante Umwelt für meinen Körper ist, hat sie auch einen hohen Einfluss auf meine Gefühle.
Beispiel: Wenn ich daran denke, mit Freunden essen zu gehen (Gedanke), entwickle ich direkt Vorfreude (Gefühl). Dieses Gefühl kann wiederum meine Gedanken beeinflussen, usw.
Die Systemtheorie ist also ein interdisziplinärer Ansatz, der als Werkzeugkasten genutzt werden kann, um über die Wechselwirkung zwischen sozialen, psychischen und biologischen Systemen nachzudenken.
Warum entsteht der Irrtum?
Der Irrtum entsteht insbesondere in „unserer“ Szene der Unternehmensführung und Organisationsentwicklung, weil die Systemtheorie dort eingesetzt wird, um Phänomene in Organisationen zu verstehen und selbige zu entwickeln. Peter Fuchs, ein Schüler Luhmanns, bei dem ich noch das Glück hatte, ein Seminar besuchen zu können – hatte z.B. einen ganz anderen Fokus: Er nutzte die Systemtheorie im Umfeld der Behinderteninklusion.
Luhmann selbst, dem häufig eine vollständige Vernachlässigung psychischer Systeme nachgesagt wird, behandelt sie u.a. in dem 6. Band seiner „Soziologischen Aufklärung“ ausführlich.
Irrtum 4: Systemtheorie und systemisch sind das Gleiche
Häufig wird angenommen, die Systemtheorie wäre die Grundlage für systemische Ausbildungen und dass diese beiden Begriffe deshalb mehr oder weniger deckungsgleich sind.
Was die Systemtheorie eigentlich ist
Die Systemtheorie ist ein sehr konturenscharfes Instrumentarium, indem Begriffe eindeutig definiert sind und theoretische Konstrukte logisch aufeinander aufbauen.
Wie bei wissenschaftlicher Arbeit üblich, werden Weiterentwicklungen der Theorie aus bisherigen Zusammenhängen selbiger abgeleitet. Entweder indem auf diesen aufgebaut wird oder indem ihnen an ausgewählten Stellen Inkonsistenzen bzw. Logikfehler „nachgewiesen“ werden.
Nur deshalb ist es auch möglich, dass Systemtheorieexperten auf diesen Artikel auf Einzelformulierungsebene mit Korrekturvorschlägen reagieren, wenn ich mal zugunsten der Verständlichkeit verdaulichere Begriffe gewählt habe.
Durch diese hochwissenschaftliche Basis tun sich Varianten der Theorie auf, die wie Äste eines Baums auswachsen oder verkümmern. Deshalb gibt es auch nicht die EINE* Systemtheorie. Meist bezieht man sich aber auf die sogenannte „Neue Systemtheorie“ von Niklas Luhmann, die auch ein wichtiges Fundament unserer Arbeit darstellt.
Systemisch bzw. systemisches Denken ist hingegen weniger konturenscharf. Es ist eher eine Art Sammelbehälter für Denkweisen, praktische Methoden und Haltungen, die einen ganzheitlichen Ansatz widerspiegeln.
Je nach „Schule“ kann eine systemische Ausbildung mal vollständig auf der Systemtheorie aufbauen und mal erwähnt sie Luhmann lediglich im Vorbeigehen mit einem Satz. Manchmal widersprechen systemische Inhalte auch systemtheoretischen Theoriekonstrukten.
Der Vergleich zwischen systemisch und systemtheoretisch ist also eigentlich ein Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen.
Warum entsteht der Irrtum?
Der Irrtum entsteht meiner Beobachtung nach aus zwei Gründen: Erstens klingen die Begriffe sehr ähnlich und zweitens ist häufig gar nicht bekannt, dass es mit der Systemtheorie eben eine echte wissenschaftliche Theorie gibt, deren Werke viele Bücherregale füllen würde.
*Die EINE Systemtheorie gibt es nicht, auch wenn die Luhmann’sche Systemtheorie den deutschen Sprachraum dominiert. Nicht alle teilen die Luhmann’sche Ausweitung des Autopoiese-Begriffs auf soziale Systeme, die Vorstellung operativer Geschlossenheit oder Luhmanns Moraltheorie. Dennoch sind viele Inhalte der unterschiedlichen Systemtheorien sich deutlich ähnlicher als es andere Erklärungsmodelle von Kommunikation sind. Daher halte ich die Verkürzung für zulässig im Sinne der Aufklärung über die Irrtümer.
Irrtum 5: Die Systemtheorie macht konkrete Empfehlungen
„Was sollte man denn jetzt hier systemtheoretisch tun?“, werde ich häufig gefragt. Da schwingt mit: Systemtheorie hält Lösungen bereit, empfiehlt bestimmte Vorgehensweisen oder Organisationsformen.
Was die Systemtheorie eigentlich tut
Wie jede Theorie unternimmt auch die Systemtheorie den Versuch, eine Beschreibung anzufertigen, die Phänomene erklärbar macht. Wie eine Brille, die ich mir aufsetze. Die Systemtheorie zeichnet zudem aus, dass sie einen rein deskriptiven Charakter hat, keinen normativen. Das heißt, sie will nur beschreiben und eben nicht gestalten, empfehlen oder urteilen.
Die Systemtheorie ist also nicht vergleichbar mit SAFe (Scaled Agile Framework), Holacracy oder Lean Management. Sie ist kein Managementansatz, dessen Umsetzung sich bei Unternehmen beobachten lässt. Es gibt keine Organisationen, die nach der Systemtheorie arbeiten.
Oder anders: Jeder Betrieb, mehr noch, jeder Kommunikationsvorgang, lässt sich mit der Systemtheorie beschreiben. Ganz egal, wie er organisiert ist.
Die Systemtheorie ist wie ein Werkzeug.
Beispiel: Eine Säge wird nicht zusammen mit einer Anleitung verkauft. Dafür ist sie zu vielseitig. Erst durch meine Ideen und Fähigkeiten entfaltet die Säge Wirkung. Immer wieder aufs Neue, immer wieder anders.
Das unterscheidet das Werkzeug vom Rezept.
Warum entsteht der Irrtum?
Stell Dir vor, Du fragst einen Mathematiker, ob Du für ein Jahr einen Kredit mit einer Zinsrate in Höhe von 90 % aufnehmen solltest. Vermutlich würde der Mathematiker Dir davon abraten. Das macht die Mathematik jedoch nicht zu einer normativen Theorie, die Ratschläge gibt.
Die Mathematik lässt sich lediglich als Werkzeug nutzen, um die Zinszahlungen zu berechnen. Was daraus gemacht wird, hat sie nicht in der Hand.
Ähnlich verhält es sich mit der Systemtheorie. Ihre Nutzer lassen sich gelegentlich auf Empfehlungen ein. Wir tun das auch, sonst könnten wir einige nützliche Funktionen von Beratung nicht wahrnehmen.
Manchmal wird die Systemtheorie als Glaubwürdigkeitsverstärker instrumentalisiert: „Systemtheoretisch sollte man das aber so machen!“, hörst Du dann vielleicht.
Oder sie wird gar als Management-Ansatz verkleidet. So kann schnell das Gerücht entstehen, die Systemtheorie selbst würde konkrete Lösungen bereithalten.
Es ist deshalb wichtig, zwischen der Theorie und ihren Nutzern zu unterscheiden.
Irrtum 6: Die Systemtheorie lädt zum Fatalismus ein
„Wenn Systeme sich selbst erzeugen, dann gibt es für mich ja nichts mehr zu tun. Soll ich dann einfach staunend zusehen?“ So klingen die desillusionierten Stimmen manchmal.
Was die Systemtheorie eigentlich sagt
Systeme sind selbstreferenziell und autopoietisch, sagen die Fachleute. Was bedeutet das?
Selbstreferenzialität bedeutet hier: Ein System (im systemtheoretischen Sinne), bezieht seine Vorgänge auf andere eigene Vorgänge, indem es innere Vorgänge von äußeren unterscheidet.
Beispiel: Wir sagen „Morgen“ wenn wir „Guten Morgen“ meinen. „Guten Morgen“ können wir wiederum sagen, weil mal „Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen“ gemeint war. Die Kurzform „Morgen“ bezieht sich also auf andere Wörter in unserer Sprache und unterscheidet sich dadurch von anderen Sprachen, die nicht zur deutschen Sprache gehören und nicht verwendet werden können.
Autopoiese bedeutet „selbst“ – „machen“. Am Beispiel der Sprache: Die Sprache macht sich selbst. Sie lässt sich nur aus ihren eigenen Elementen formen. Sie erzeugt sich also selbst und entwickelt sich aus sich selbst weiter.
Es ist richtig, dass diese Sichtweise viele Versuche, auf Systeme einzuwirken, zu Machtbarkeitsillusionen degradiert. Das kann zunächst einen gewissen Pessimismus auslösen. Was kann ich schon machen, wenn das System sich von Außen ohnehin nicht steuern lässt?
Der Systemtheorie daraus einen Vorwurf zu machen, als sei sie ein Spielverderber, wirkt jedoch naiv.
Wozu kostbare Ressourcen für aussichtslose Vorhaben investieren?
Beispiel: Wieso sollte ich versuchen, eine Rakete ins All zu feuern, deren Beschleunigungskraft kleiner ist als die der Erdbeschleunigung? Hätte ich die Gravitationstheorie konsultiert, wäre mir der Aufwand erspart geblieben.
Die Systemtheorie zeigt zwar Grenzen, damit aber auch viele Möglichkeiten auf. Dank ihrer Sichtweisen kann ich erkennen, wo Hebel in der Organisations- und Personalentwicklung bestehen. Ich kann „strukturelle Kopplungen“ zwischen Psychen und Sozialsystemen als Veränderungshebel nutzen, kann durch Mustererkennung anschlussfähig irritieren usw.
Warum entsteht der Irrtum?
Da die Systemtheorie nicht weitverbreitet ist, wirkt sie nach wie vor unkonventionell und bedrohlich. Ihre Beschreibungen stellen Alltagsüberzeugungen infrage. Dieser Widerspruch zur Norm gibt ihr notgedrungen einen negativen Anstrich. Was ankommt, ist das „So nicht“, „Das geht nicht“ oder „Der Ansatz muss scheitern“. Das täuscht über die vielen Chancen hinweg, die sich auftun.
Meine Erfahrung mit knapp 4.000 Akademieteilnehmern: Aus anfänglichem Pessimismus wird Zuversicht und dann Aufbruchstimmung. Es ist nur eine Frage der Geduld.
Heute bleibe ich mit meiner Familie bei unseren Fernreisen häufiger an einem Ort. Wenn mich Anwohner auf der Straße anfangen zu grüßen; wenn ich sehe, wie sich das Straßenbild über drei bis vier Wochen verändert; wenn ich mit einem Cafébesitzer abends ein Bierchen trinke. Na ja, dann werde ich weiterhin nicht zum Einheimischen, aber zumindest tauche ich etwas tiefer in die lokale Kultur ein. Und vielleicht erlaube ich mir dann auch das eine oder andere vorsichtige Urteil.
Wenn ich eine Empfehlung geben darf: Halte es mit der Systemtheorie so wie mit dem Reisen. Urteile nicht zu schnell.
„Ich […] kann durch Mustererkennung anschlussfähig irritieren.“
Danke für diesen Satz, der „mein“ Anwendungsfeld der Systemtheorie und mein Verständnis des „systemischen“ wunderbar beispielhaft zusammenfasst und verbindet. Natürlich nicht rezepthaft und es gibt auch bei mir noch weitere.