Bei unserem letzten Alumni-Treffen stellte uns eine Kundin ihr Dilemma vor. Ihr Unternehmen, eine Anwaltskanzlei, ist rasant gewachsen und hocherfolgreich. Die Mitarbeiter haben viel Eigenverantwortung und handeln in der Regel im Sinne der gesamtunternehmerischen Interessen.
Jetzt denkt sie mit ihren Geschäftsführungskollegen darüber nach, individuelle Zielvereinbarungen einzuführen. Ihr Future Leadership Verstand sagt „Nein“. Dieser hat es jedoch schwer, sich gegen ihre Emotionen durchzusetzen.
Immer wieder kommt es nämlich vor, dass Kollegen mit überzogenen Gehaltsvorstellungen oder individuellen Erwartungen auf sie zukommen. Die damit verbundenen Gespräche sind anstrengend und nervenaufreibend, denn häufig fehlen ihr die objektiven Argumente für ihre Sicht.
Wie soll sie argumentieren, dass sie die Gehaltsvorstellung nicht für gerechtfertigt oder unternehmerisch tragfähig hält? Oder dass ihr Bauch vermeldet „diese Verhaltensweise passt einfach nicht zu unserem Unternehmen, lieber Kollege“?
Wie viel leichter und zeitsparender es doch wäre, auf objektive Kriterien zurückgreifen und diese anstrengenden Gespräche vermeiden zu können? Wie praktisch wäre es, wenn sich das Gehalt mithilfe von Zielvereinbarungen einfach errechnen ließe? Oder wenn ein zusätzliches 360° Feedback mit Beurteilungskriterien einen repräsentativen Spiegel für den kulturellen Fit liefern würde? Und wie fair wäre es für alle Mitarbeiter, wenn sie anhand dieser Kriterien wüssten, woran sie sind?
Aber die Sache hat einen Haken.
Welches Problem hättest Du lieber?
Zu der Wirkung individueller Zielvereinbarungen haben wir uns hier im intrinsify Magazin vielfach geäußert. Noch mal in Kürze: Sobald Mitarbeiter komplexe Projekte, Aufträge oder Vorgänge bearbeiten, müssen sie für jeden Einzelfall passende, gesamtunternehmerisch sinnvolle Entscheidungen treffen. Diese können jedes Mal anders ausfallen.
Zum Beispiel gibt es in der Kanzlei unserer Kundin Projekte, die aus Umsatz- und Renditemotiven unattraktiver, dafür in der Markenwirkung und damit für das langfristige Geschäft hochattraktiv sind. Erst im Einzelfall kann erkannt werden, ob der Kunde passt.
Eine individuelle und an das Gehalt geknüpfte Zielvereinbarung – sei sie auch noch so facettenreich – wird Mitarbeiter immer einem Dilemma aussetzen: Entweder sie optimieren ihr Gehalt oder sie optimieren den Unternehmensnutzen. Oder anders formuliert: Sie müssen sich entscheiden, ob sie sich oder dem Unternehmen schaden.
Erfolgsgeschichten aus der Praxis
Erfahre in unserem Artikel „Wie diese Unternehmen die individuellen Zielvereinbarungen abgeschafft haben“ mehr über das Thema und was es für nützliche Alternativen zur gängigen Praxis gibt.
Wenn unsere Kundin die Zielvereinbarungen einführt, ist es also sehr wahrscheinlich, dass das gesamtunternehmerische Denken ihrer Mitarbeiter über kurz oder lang abnimmt und die Wertschöpfung leidet. Außerdem wird sie zum Mikromanagement verdammt, um den Schaden zu kompensieren, den ihr eigenes Zielsystem ausgelöst hat.
Das ist ein Problem, keine Frage.
Sie könnte sich aber auch für ein anderes Problem entscheiden.
Sie könnte auch in Zukunft auf die Zielvereinbarungen verzichten. Dann bleibt das gesamtunternehmerische Handeln der Mitarbeiter höchstwahrscheinlich erhalten (vorausgesetzt, auch die anderen Facetten des Führungssystems sind förderlich für die Wertschöpfung und den langfristigen Erfolg des Unternehmens).
Dafür wird sie aber auch weiterhin den anstrengenden Gesprächen ausgesetzt sein. Weiterhin Kritik und Unverständnis ernten. Weiterhin Konflikte austragen, bei denen es keine Gewinner gibt. Vielleicht gelegentlich sogar Mitarbeiter verlieren, die sich ungerecht behandelt fühlen.
Und das ist ebenfalls ein Problem, keine Frage.
Moment mal … täuscht der Eindruck vielleicht? Ist das wirklich ein Problem?
Organisationale Druckablassventile
Ja klar, für unsere Kundin fühlt es sich wie ein Problem an. Und ich kenne diese Situationen nur zu gut. Auch für mich fühlen sie sich wie ein Problem an, diese kräftezehrenden Alltagskonflikte mit Kollegen.
Mir hilft aber ein Perspektivwechsel: In jedem Unternehmen begegnen sich unterschiedliche Zwänge, Überzeugungen, Meinungen, Interessen usw. Häufig repräsentieren einzelne Mitarbeiter, Teams oder Abteilungen diese Sichtweisen, so ähnlich wie Anwälte die Interessen ihrer Mandanten vertreten.
Alltagskonflikte sind der Rahmen, in dem diese Unterschiedlichkeiten aufeinandertreffen und sich kommunikativ entladen. In diesen Situationen ergibt sich jedes Mal aufs Neue die Gelegenheit, Missverständnisse zu erkennen, die andere Seite zu verstehen, die eigenen blinden Flecke auszuleuchten, enttäuscht zu werden (also eine Täuschung hinsichtlich falscher Erwartungen zu verlieren), zusammenzurücken etc.
Etliche Momente dieser Art sorgen für den nötigen Druckablass. Sie wirken als Korrektiv, ermöglichen Fortschritt sowie Selbstregulation.
Der für klassisches Management übliche Anspruch, die Vorgänge im Unternehmen vermessen, objektivieren und steuern zu wollen, unterbindet diesen Druckablass jedoch.
Denn dadurch wird den Mitarbeitern implizit ihre Mündigkeit entzogen.
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Ungewollte Entmündigung
Ein Zielsystem sagt implizit: „Leistung muss nicht mehr subjektiv beurteilt werden, hier steht ja schwarz auf weiß, was Du gemacht hast.” Wozu also noch reden?
Ein 360° Feedback sagt implizit: „Wir müssen nicht mehr miteinander sprechen und uns einander zumuten, hier steht ja schwarz auf weiß, wie Du von Deinen Kollegen beurteilt wirst.“ Wozu also noch situatives Feedback?
Eine Regel sagt implizit: „Wir müssen nicht mehr darüber nachdenken und verhandeln, was in dieser Situation sinnvoll sein könnte, hier steht ja schwarz auf weiß, was richtig und falsch ist.“ Wozu also noch nachdenken?
Klassisches Management entmündigt, indem es die Notwendigkeit für den heilenden Diskurs durch die Illusion ersetzt, alles sei objektiv und eindeutig bewertbar.
Doch wenn das organisationale Druckablassventil fehlt, dann staut sich die Spannung auf und entlädt sich in anderer Form, z.B. durch Resignation, Minderleistung und schließlich dauerhaften Erfolgsrückgang.
Denn die Mitarbeiter spüren ja, dass die Objektivität eigentlich eine Schein-Objektivität ist. Das stört nicht nur die Arbeit, es verletzt auch und lässt das Vertrauen in das Management erodieren.
Mit anderen Worten: In einer gesunden Organisation kann gestritten werden. In einer gesunden Organisation haben Mitarbeiter die Zuversicht, dass es einen Unterschied macht, wenn sie sich ihren Kollegen zumuten.
Wenn sie diese Zuversicht jedoch verlieren und sich nicht mehr der Anstrengung unterziehen, sich einander auszusetzen, dann steht eine Organisation am Kipppunkt.
Vielleicht denkst Du jetzt: „Aber man kann doch auch nicht alles tot quatschen. Dann kommt man ja gar nicht mehr zur Arbeit.“
Die Kunst des Aushaltens
Nein, man sollte definitiv nicht alles tot quatschen. Das wäre ein Missverständnis dieses Artikels.
Führungskräfte sollten sich nicht gezwungen sehen, jede Entscheidung auf ausufernde Weise erklären zu müssen. Sie sollten auch nicht der Verführung einer exzessiven Partizipationskultur oder Entscheidungsdemokratie erliegen. Es ist auch nicht klug, Selbstbestimmung auf ein so hohes Podest zu stellen, dass Mitarbeiter glauben, ihre eigene Selbstverwirklichung während der Arbeitszeit den Unternehmensinteressen vorziehen zu können.
Jedes Unternehmen ist jedoch auf die Widerständigkeit seiner Mitarbeiter angewiesen. Sich widerständig zu zeigen, bedeutet, den Aufwand nicht zu scheuen, die eigene Perspektive mitzuteilen.
Genau das tun Mitarbeiter jedoch nur, wenn sie sich vorstellen können, dass ihre Äußerungen das Potenzial haben, einen Unterschied zu machen. Häufig reicht schon die Gewissheit, dass der Chef den Einwand hören und verarbeiten konnte. Der Mitarbeiter denkt: „Ich möchte, dass Du meine Sichtweise mitbekommen hast und für Dich erkennen kannst, ob sie Deine Entscheidung beeinflussen sollte.“ Es geht teils lediglich um das gute Gefühl, die Chance gehabt zu haben, eine Entscheidung zu beeinflussen, falls der Einwand auf Resonanz trifft.
All das entzieht eine Steuerung, Vermessung, Objektivierung und Kontrolle durch Zahlen, Daten und Fakten jedoch. Sie entzieht der Wertschöpfung das Gefühl für den Einzelfall, das Abwägen von Sonderfällen, die Berücksichtigung von Einwänden. Und vor allem entzieht sie die Gelegenheit für Diskurs.
„Vielleicht muss ich es einfach aushalten.“ Mit diesen Abschlussworten fasste unsere Kundin unser Gespräch beim Alumni-Treffen zusammen.
Dieses Aushalten kann eine Zumutung sein. Genau deshalb werden viele Unternehmen nie auf Steuerung verzichten. Viele zahlen (unbewusst) lieber den Preis des schleichenden und kaum beobachtbaren Entzugs ihrer Höchstleistungsgrundlage als sich den vielen kleineren und größeren Alltagsreibereien auszusetzen.
Es ist eine gute Nachricht für die Geduldigen und Hartnäckigen. Sie bleiben die beneidete Minderheit.