Ich oute mich als Cineast. Ich habe trotz teils fragwürdiger Preispolitik quasi alle Streaming-Dienste abonniert, die mir gute Filme nach Hause bringen und nutze im Winter jede Gelegenheit, ins Kino zu gehen – im Sommer eher nicht, da genieße ich lieber einen kühlen Drink am olympischen Hafen in meiner Wahlheimat Barcelona.
Vor kurzem habe ich nach vielen Jahren mal wieder die Der-Pate-Trilogie von Francis Ford Coppola aus den 70er und 80er Jahren gesehen und mich an diesen Artikel erinnert, der schon länger überarbeitet und wiederveröffentlicht gehört.
Wenn sich Zwang und Liebe treffen
Paternalismus gibt es nicht erst, seit Der Pate über die Kinobildschirme geflackert ist. Und wohl weil Marlon Brando, Al Pacino und überhaupt der ganze Film so ein Hit waren, scheinen viele Unternehmen Patriarchen à la Don Vito Corleone einfach mit ins 21. Jahrhundert genommen zu haben!
Seufz …
Ich stöhne, weil Patriarchen nur einer von mehreren Auswüchsen des Paternalismus (Paternalismus – von lateinisch »pater« = Vater), einer offensichtlich verbreiteten Herrschaftsform sind. Sie gibt es im Übrigen auch in einer mütterlichen Form als »Maternalismus«, aber diese Differenzierung soll nicht das Thema dieses Artikels sein. Alldieweil könnt ihr beide Konzepte für die kommenden Zeilen gleich setzen, denn Paternalismus kann gleichermaßen von Frauen und Männern ausgeübt werden.
Also zurück zur väterlichen Führung, die in der breiten Gesellschaft ebenso wie in Unternehmen offenbar mit großer Freude an der Tradition betrieben wird. Nach meiner Beobachtung gibt es zwei Typen von Paternalisten, den klassischen und den vermeintlich modernen. Dabei ist der Patriarch hier nicht zwingend gleichzusetzen mit dem Inhaber, dem Geschäftsführer, dem Vorstand, der Führungskraft oder sonst welcher Person mit hoher formaler Macht. Um Patriarch zu sein, braucht niemand Schulterklappen.
Erster Typ: Die fürsorglichen Patriarchen
Sie betreten die Bühne strotzend vor Wissen – dem Wissen, ›wie es geht‹. Ihren Mitarbeitern sagen sie, was und wie zu tun ist und was sie lieber lassen sollen. Denn für jeden, der ihren Anweisungen Folge leistet, wird alles gut. Der Taylorismus lässt grüßen.
Diese Art paternalistischer Lenkung von Untergebenen ist selbstredend in jedem konkreten Einzelfall gut gemeint, daran zweifelt niemand. Sie ist aber dennoch eine Herrschaftsordnung, die ihre Legitimation nur aus dem unterstellten Unwissen und der unterstellten Unmündigkeit der Beherrschten zieht. Auf gut Deutsch: Mitarbeiter können deshalb zu ihrem Glück gezwungen werden, weil man sie zuvor für nicht weitsichtig genug, zu unreif, zu unfähig oder für zu sonst wie ungenügend erklärt hat, um selbst für ihr Glück zu sorgen. Überdies wird der Patriarch bei der Gelegenheit auch noch gleich festlegen, was überhaupt unter ›Glück‹ zu verstehen ist.
Die Übergriffigkeit dieses Gedankengangs ist offensichtlich.
Es mutet schon komisch an, regelrecht aus der Zeit gefallen: Da schließt ein mündiger erwachsener Mensch einen Vertrag mit einer Organisation seiner Wahl, geht also vermeintlich eine Leistungspartnerschaft auf Augenhöhe ein, aber gleichzeitig entsteht direkt danach der klassische Paternalismus. Der neue Mitarbeiter wird in die Unternehmensherde eingegliedert und fortan ist der Chef, die HR-Abteilung oder sonst wer, instrumentalisiert durch die Organisation, dafür verantwortlich, dass es ihm gut geht, dass er sich entwickelt, dass er sich nicht überarbeitet, dass er nicht aus der Reihe tanzt, dass er nicht zu frech wird und abhaut … Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber für mich klingt das eher nach einer Erziehungsmethode für Kinder. Einerseits straft der Chef jedes Fehlverhalten, andererseits passt er auf sein Schäfchen auf und tut ihm Gutes.
Also mein Gehirn spuckt da sofort wieder das Bild von Der Pate mit einer Katze auf dem Schoß aus – Achtung, rauchige Stimme anschalten: »Ich war doch immer gut zu euch!« Denn wenn eines typisch ist für Patriarchen, dann, dass sie Zwang mit Liebe verwechseln.
Zweiter Typ: Die Pulswärmer
Wem der Paternalismus im Stil der Mafia-Patriarchen bislang nicht genug ist, der darf sich gerne einen viel niedlicheren Pulswärmer überziehen: Die meinen es nämlich auch immer nur gut mit den Mitarbeitern, aber auf so viel ›bessere‹ Weise!
Diese Pulswärmer-Typen wissen: Alles ist böse, so wie es ist, und so darf man das heute ohnehin nicht mehr tun. Unternehmen brauchen jetzt wahlweise empathischere, resilientere, charismatische, wertschätzendere, kommunikativere Führungskräfte, menschlichere Arbeitsstrukturen und überhaupt sind doch die Vier-Tage-Woche und das Coffee Badging die Lösung fast aller Probleme. Das muss es jetzt sein!
(Coffee Badging kanntet ihr bislang nicht, oder? Googelt es mal…)
Ja, die Pulswärmer meinen es ebenfalls wahrhaft gut. Was sie dabei übersehen, ist, dass sie das Kind mit dem Bade ausschütten. Mittels moralischer Überhöhung gegenüber ihren Mitmenschen üben auch sie letztlich wieder Paternalismus aus und grenzen die Freiheit der Mitarbeiter über die Maßen ein – nur schön versteckt hinter blumigen, wohlklingenden Plattitüden.
Die Betriebsmeditation wird dann plötzlich einmal die Woche zur Pflicht für alle, der Vegan Day zieht per Dekret von oben in die Kantine ein, manche Kennzahlen werden nicht mehr veröffentlicht (»die machen ja sonst den Menschen Angst«), der kommende Change muss schon mal mit Lego-Steinen vorgebastelt werden und für die gesunde Rückenhaltung haben von nun an alle auf Gymnastikbällen zu sitzen …
Ist doch gut gemeint! Und natürlich gaaanz anders als der altbackene Patriarch das machen würde!
Nur: Das Motiv einer Maßnahme entscheidet nicht über ihr Ergebnis. Der Wirkung ist die Absicht der Intervention sogar gänzlich egal.
Der großartige Psychologe Dietrich Dörner schrieb 1989 dazu diese Sätze: „Meines Erachtens ist die Frage offen, ob ›gute Absichten + Dummheit‹ oder ›schlechte Absichten + Intelligenz‹ mehr Unheil in die Welt gebracht haben. Denn Leute mit guten Absichten haben gewöhnlich nur geringe Hemmungen, die Realisierung ihrer Ziele in Angriff zu nehmen. Auf diese Weise wird Unvermögen, welches sonst verborgen bliebe, gefährlich, und am Ende steht dann der erstaunt-verzweifelte Ausruf: ›Das haben wir nicht gewollt!‹“
Mit Macht & Moral gegen den Individualismus
Egal, welche Form des Paternalismus ihr nun vor euch habt, das Drama bleibt dasselbe: Eine Berater-, Coach-, HR- und Führungsriege voller Patriarchen und Pulswärmer geht davon aus, ihre Betriebsschafe zum Arbeiten schicken zu müssen – und fühlt sich gleichzeitig dafür verantwortlich, sie vor dem bösen Arbeitsleben und der Selbstausbeutung zu beschützen. Das Ergebnis ist eine Hirte-Schaf-Kultur ohnegleichen, die zu allem Überfluss heutzutage auch teilweise gesetzlich fest verankert ist. Ob ihr dann die moralisch gute oder die mafiös böse Brille darüber legt, interessiert mich schon fast nicht mehr. Denn beide Formen des Paternalismus verhindern das, worauf es ankommt: Verantwortungsübernahme.
Ich will in einem Unternehmen des 21. Jahrhunderts vor allem individuelle Freiheit walten sehen. Dann folgen Menschen ihrem eigenen Sinn und bringen freiwillig Leistung. Nur so herum wird ein Schuh daraus.
Ob dieser Individualismus dann über die Moral oder über Pflicht und Anstand eingeschränkt wird – beide sind in meinen Augen Ansätze des frühindustriellen Paternalismus.
Führungstools für Höchstleister
Future Leadership Toolkits
Der Mord der Patriarchen
Patriarchen und Pulswärmer, die in ihren Unternehmen und Organisationsbereichen keinen Individualismus zulassen, sind strenge und wohlmeinende Herrscher – die über kurz oder lang ihre eigene Macht untergraben. Denn wo Individualismus fehlt, stirbt nicht viel später die Innovation. Kopfschuss, einzementiert, den Fischen zum Fraß vorgeworfen.
Die modernen Vertreter des Paternalismus scheinen vergessen zu haben, dass Innovation aus Ideen entsteht. Aus überraschenden Ereignissen. Aus selbstständig denkenden Menschen. Wie soll das gehen, wenn herrschsüchtige Paternalisten ihre Mitarbeiter zu Androiden machen, die blind und taub den Vorgaben ihres Padre folgen?
Innovative und lebendige, dem Markt zugewandte Unternehmen entstehen so nicht, denn das paternalistische System ist immer so beschränkt wie seine Väter (und Mütter).
Zumal ich überzeugt bin, dass Mitarbeiter ohne Freiheit und ohne individuelle Bestrebungen unweigerlich den Spaß an ihrer Arbeit verlieren. Weil die Sinnkopplung fehlt. Weil sie nur auf Anweisung und nicht aus einem individuellen Anspruch heraus arbeiten. Und ja, ich weiß, der Standardkommentar hierzu ist immer der gleiche: »Aber es gibt doch Menschen, die wollen das so!« Ja, es soll sie angeblich geben, die Androiden und Schäfchen, die sich in ihrer Eingezäuntheit wohlfühlen.
Naja, das Fass müssen wir wohl zu einem anderen Zeitpunkt aufmachen. Meine Gegenthese vorab: Es handelt sich um eine optische Täuschung: Die Menschen, deren Verhalten beobachtet wird (und nicht deren Persönlichkeitskern) haben sich geschickt sozial angepasst. Sie sind so sozialisiert, weil sie gelernt haben und lernen mussten, dass es »gut« und »einfach« ist, sich derart unterzuordnen. Der Mensch lernt ja bekanntlich schnell.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde erstmals im Dezember 2016 veröffentlicht und für die Neuauflage komplett überarbeitet.
Ganz wunderbar, lieber Lars, danke dafür! – Da teile ich nicht allein inhaltlich, was Du darlegst, sondern auch Deine emotionale, des Phänomens längst überdrüssige Bewertung! Schon erstaunlich, wie lange sich ein derart abgehalftertes Muster kulturell gehalten hat und z.T. fröhlich Urständ feiert …
Lieber Lars, das hat mir gut gefallen und gut auf den Punkt gebracht. Ich hatte das Thema immer nur sehr begrenzt gesehen. Meine Wahrnehmung war: Mit dem Thema Sicherheit kann jede Maßnahme gerechtfertigt werden. Dabei muss es nicht um Menschen gehen, auch Projekte brauchen „Sicherheit“ und muss controllt werden, Ist einmal etwas schief gelaufen wird direkt ein administratives Countermeasurement eingeführt. Dem eigentlichen Ziel der Wertschöpfung läuft das meist zuwider.