Ein neuer Kunde erzählte mir kürzlich: „Obwohl wir neue Ziele ausgegeben haben, ändern die Mitarbeiter ihr Verhalten kaum. Was können wir noch tun?“
Keine ungewöhnliche Beobachtung. Und es gibt eine recht einfache, jedoch meist unterschätzte Erklärung.
Ziele werden in ihrer Wirkung nämlich nicht nur maßlos überschätzt, sondern vor allem häufig für den falschen Zweck eingesetzt. Übrigens nicht nur im beruflichen Kontext.
Damit Du wirksamer mit Zielen arbeiten kannst, solltest Du zwischen der Überwindungs- und Orientierungsmotivation unterscheiden.
Aber eines nach dem anderen.
Stell’ Dir vor, Du willst gesünder werden und hast Dir dazu folgende Strategie überlegt: Anstatt auf Sport oder Stressbewältigung zu setzen, möchtest Du Dich zunächst auf Deine Ernährung fokussieren.
Welcher der folgenden zwei Wege dürfte erfolgversprechender sein?
Solltest Du Dir lieber das Ziel setzen, in 6 Monaten 8 Kilo abzunehmen oder solltest Du jetzt alle in Deinem Besitz befindlichen zuckerhaltigen Produkte verschenken?
James Clear, Autor von Atomic Habits, hätte eine klare Antwort. Und ich vermute, Deine eigene Erfahrung mit Neujahrsvorsätzen gibt Dir ebenfalls ein Indiz.
Egal wie ambitioniert Deine Ziele sind, Du wirst immer wieder auf das Niveau Deines „“Systems” zurückfallen. Ziele taugen kaum als Überwindungsstrategie. Sonst hätten Gewinner und Verlierer unterschiedliche Ziele.
Dieser Effekt lässt sich nicht nur auf der persönlichen Ebene beobachten. In Unternehmen ist es nicht anders.
Der Zielreflex
Ich betreue gerade einen Kunden, mit dem wir eine neue Strategie erarbeitet haben. (Falls irgendwer von euch mitliest, ganz herzliche Grüße). Strategiearbeit bedeutet für uns insbesondere, Klarheit darüber zu gewinnen, was man nicht machen will (siehe auch: Was ist eine gute Strategie?). Eine Strategie ist aber natürlich für sich genommen noch kein Garant dafür, dass ihre Absicht Realität wird.
Deshalb ist der übliche Reflex, aus der Strategie Ziele und dann Maßnahmen ableiten zu wollen. Zum Beispiel: „Bis zum 31. Mai haben wir ein MVP (Minimal Viable Product) für unsere neue Produktstrategie entwickelt.” Noch kurz einen Verantwortlichen identifiziert und schon kann es losgehen.
Tut es dann aber ganz häufig nur mit angezogener Handbremse. Oder gar nicht. Und dann sind die Vorwürfe groß und die Schuldfrage macht sich breit.
Ich möchte nicht missverstanden werden: Ziele sind nicht per se falsch oder schlecht. Es ist aber wichtig, ihre eigentliche Funktion zu erkennen.
Überwindungs- vs. Orientierungsfunktion
Ziele zu formulieren, ist häufig mit der Hoffnung verbunden, Widerstände überwinden zu können. Mit Zielen soll etwas durchgesetzt werden, was bisher von alleine nicht gelang. Ganz nach dem Motto: „Wenn alle ihre Ziele kennen, kann sich auch keiner mehr aus der Affäre ziehen“.
Bloß funktionieren weder Menschen noch soziale Systeme auf diese Weise. Deshalb sind Ziele als Überwindungsstrategie sehr ungeeignet.
Denn wie der in diesem Artikel bereits erwähnte James Clear ebenfalls sehr treffend beschreibt: „Du steigst nicht auf das Niveau Deiner Ziele. Du fällst auf das Niveau Deines Systems.“
Wenn Ziele für ein System (Psyche oder Unternehmen) formuliert werden, das nicht die Eigenschaften vorhält, diese zu erreichen, wird lediglich die Saat für Frust gelegt.
Die Hauptfunktion von Zielen ist eben keine Überwindungs-, sondern eine Orientierungsfunktion. Ziele beschreiben einen Sollzustand und schaffen dadurch Klarheit darüber, was der Unterschied zwischen Gegenwart und angestrebter Zukunft ist. Das ist eine wichtige Funktion, denn bei knappen Ressourcen stellt sich stets die Frage, wofür diese eingesetzt werden.
Doch da mit Zielen häufig eben nicht nur die Orientierungsfunktion, sondern auch eine Überwindungsfunktion verfolgt wird, bekommt die Verwendung von Zielen einen geradezu inflationären Charakter.
Eben weil davon ausgegangen wird, dass die akribischen Kaskadierung der Ziele bis auf den letzten Mitarbeiter eine Voraussetzung dafür ist, dass alle sich in die richtige Richtung bewegen. Warum diese Kaskadierung häufig eher schadet als nützt, führen wir an vielen anderen Stellen in diesem Magazin ausführlich aus (z.B. hier oder hier).
Fakt ist: Für die Orientierungsfunktion reichen meist sehr wenige Ziele. Welchen Beitrag ein Bereich im Unternehmen leisten kann, um die gesamtunternehmerischen Interessen zu verfolgen, liegt in der Regel auf der Hand.
Die Frage ist vielmehr, ob das System dabei im Weg steht oder unterstützt.
Unvermeidlichkeitszustände
Das ideale System ist eines, das das angestrebte Verhalten unvermeidlich macht.
Dieser Satz sollte auf dem Schreibtisch einer jeden Führungskraft stehen. Denn eine wirksame Führungskraft arbeitet in erster Linie am System, nicht im System. Diese Beobachtung ist bereits zur Binse geworden und doch kann sie nicht häufig genug betont werden.
Ziele auszurufen, die den Mitarbeitern ein Verhalten abverlangen, dass dem System entgegenläuft, sorgt für den sprichwörtlichen Kampf gegen Windmühlen.
Ein Praxisbeispiel: Ein Klient von uns wollte seine Abhängigkeit von einigen wenigen Großkunden reduzieren. Obwohl er dieses Ziel in der Vergangenheit bereits auf verschiedenste Weise ausgerufen und auf einzelne Mitarbeiter heruntergebrochen hatte, hatte sich an dem Zustand nichts verändert.
Unser Klient hatte den Vertrieblern sogar große Boni für die Akquirierung neuer Projekte versprochen. „Das ist doch eine Arbeit am System”, wendest Du jetzt womöglich ein.
Jein. Einerseits stimmt es natürlich, dass ein Bonusmodell den Rahmen der Arbeit verändert. Andererseits verstärken Boni ja eigentlich nur die Entschlossenheit, mit der Ziele verfolgt werden sollen. Wer Boni verspricht, ruft die Ziele nicht nur aus, er schreit regelrecht.
Das Problem bleibt: Wenn die Mitarbeiter gegen das System anarbeiten müssen, um die nun sogar finanziell versüßten Ziele zu verfolgen, ist dem Gesamtunternehmen nicht gedient. In diesem speziellen Fall führte es dazu, dass die Vertriebler sich vom Unternehmen abgekoppelt und ungerecht behandelt fühlten. Und natürlich führte es auch zu weiterem Frust im Management, das nach wie vor eine zu hohe Abhängigkeit von den Großkunden monierte.
Was wir herausfanden: Neue Projekte der Bestandskunden fanden ihren Weg ins Unternehmen, ohne dass jemals jemand aktiv eine Entscheidung getroffen hätte. Ein Auftrag galt also automatisch als angenommen, wenn er vom Bestandskunden kam. Die Bestandskunden hatten gewissermaßen das unausgesprochene Mandat, nach Gutdünken auf die Kapazitäten ihres Dienstleisters (unseres Klienten) zugreifen zu können.
Die Vertriebler unseres Klienten hatten sich also mit ihrem Ziel, Neuaufträge zu gewinnen, gleichzeitig einen Ressourcenkonflikt eingehandelt. Denn die internen Kapazitäten, die sie alleine schon für die Befriedigung einer Klärungsphase benötigt hätten, waren in den Bestandskundenprojekten gebunden. Ziele hin oder her. Boni hin oder her.
Hier musste also eine Projektbestandsbegrenzung eingeführt werden, damit die Neukundenprojekte überhaupt eine Chance hatten, mit passend qualifizierter Kapazität versorgt werden zu können.
Dieses Beispiel ist natürlich nur eines von vielen und demonstriert hoffentlich trotzdem, wie entscheidend es ist, das System höher zu priorisieren als die Ziele.
Zur Orientierung taugen sie, zur Überwindung von Widerständen nicht.