Ich war diesen Sommer auf einer Hochzeit in Italien. Das hatte Bilderbuch-Charakter, ich sag’ es Dir. Lewis und Izzy – so heißen die beiden – haben einfach alles perfekt geplant.
Bist Du verheiratet? Sorry, dass ich direkt so mit der Tür ins Haus falle. Ich frag’ nur aus beruflichen Gründen. Denn wenn Du verheiratet bist, hast Du ja vermutlich auch Deine Hochzeit organisiert. Und auch wenn nicht, Du wirst es Dir trotzdem vorstellen können, wie sowas abläuft.
Ich will Dich auf ein Gedankenexperiment einladen. Stell’ Dir vor, Du würdest Deine Hochzeit mit ein paar Freunden und Familienmitgliedern planen. Jeder bringt seine Ideen ein und über jede Idee wird gemeinsam gesprochen. Ihr versucht gemeinsam zu entscheiden, wie die Hochzeit ablaufen soll, wer eingeladen wird, was gegessen wird usw. Ihr verteilt manche Teilentscheidungen auch auf die Freunde auf.
Und was kommt dabei raus? Ein Flickenteppich. Eine Ansammlung von womöglich tollen Einzelideen, die aber hinten und vorne nicht zusammenpassen. Im Streben nach Harmonie und dem Wunsch, alle einzubinden, entstand ein Kompromiss ohne Kontur, ohne Stil, ohne klare Linie und ohne die Handschrift des Paares.
Auf manchen Hochzeiten erlebe ich diese Flickenteppiche in den frei gestaltbaren Phasen, in denen es Freunde und Trauzeugen mal wieder etwas zu gut meinten. Kennst Du das? Wenn Du Dich nach vier Stunden organisiertem Spaß nur noch mit Schnaps über Wasser halten kannst, weil der Fremdscham sonst kaum zu ertragen ist.
Hochzeiten leben von einer gelungenen Verkettung vieler kleiner Entscheidungen, die zueinander passen.
Und – Du ahnst es bereits – nicht nur Hochzeiten tun das. Messeauftritte tun das auch. Oder Produktneuentwicklungen. Oder Kundenprojekte. Oder Vertriebsgespräche. Überhaupt: Viele Vorgänge in Unternehmen profitieren davon, wenn sie von Einzelnen entschieden werden. Denn nur so gelingt eine hochwertige Entscheidungskette.
Aber wieso ist das eigentlich so?
Der Eloquenzverlust
Da sind zunächst einmal die offensichtlichen Gründe:
Wenn eine Person entscheidet, braucht es weniger Kompromisse. Anstatt nur die „low hanging fruits” zu ernten, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie auch größere Hebel adressieren kann. Das fördert Fortschritt und beugt der Mittelmäßigkeit vor.
Außerdem sind Einzelentscheide meist schneller und effizienter. Ellenlange Diskussionen weichen kurzen Abstimmungsschleifen.
Einer der Hauptvorteile ist jedoch weniger offensichtlich:
Zu entscheiden, bedeutet eine Option aus anderen denkbaren Optionen auszuwählen. Dabei drängt sich keine der Optionen als offensichtlich richtige auf. Täte sie das, müsste ja nicht entschieden werden.
Mit anderen Worten: Zu entscheiden, bedeutet immer unter Ungewissheit zu handeln. „Entschieden werden muss nur Unentscheidbares”, sagte Heinz von Foerster sinngemäß.
Wenn also das vorhandene Wissen nicht ausreicht, um eine Auswahl zu treffen, bin ich notgedrungen auf meine Gefühle zurückgeworfen, um zu entscheiden. Wer entscheidet, nutzt also Gefühle.
Nun unterscheiden sich Gefühle jedoch. Kollegen entwickeln in einer Entscheidungssituation unterschiedliche Gefühle und fühlen sich deshalb zu unterschiedlichen Optionen hingezogen. Sie versuchen dann ihre Gefühle zu rationalisieren, um sie über Argumente in die Diskussion einbringen zu können.
Dabei „gewinnt” aber nicht derjenige, der für die Entscheidungssituation das beste Gefühl hat – also der Könner für das Problem – sondern derjenige, der die besten Argumente vorbringt, also der geübte Redner und Verhandler.
Zugespitzt bedeutet das: Der Preis, den ihr für die Illusion bezahlt, die richtige Entscheidung ließe sich „er-diskutieren“, ist die Dominanz der Eloquenten. Ihr bezahlt mit dem Eloquenzverlust.
Neben dem Eloquenzverlust gibt es noch einen weiteren, selten gesehenen Aspekt, der für den Einzelentscheid spricht.
Verkettungsbruch
Entscheidungen haben Konsequenzen, logisch. Denn auch hier gilt: Hätten sie das nicht, bräuchtest Du nicht zu entscheiden. Und sogar das hätte Konsequenzen.
Jede Konsequenz speist wiederum Dein Gefühl, aus dem sich zukünftige Entscheidungen nähren. Dein Gefühl unterscheidet sich von dem Gefühl Deiner Kollegen. Damit die nächste Entscheidung also Gebrauch vom letzten Irrtum (oder Erfolg) machen kann, müsste sie auch von demjenigen getroffen werden, der die letzte getroffen hat.
Wenn sich, wie auf der Hochzeit, viele kleine Entscheidungen auf stimmige Art und Weise verketten sollen, bildet das Gefühl einer spezifischen Person also das jeweilige Bindeglied.
Das heißt: Wenn das Gefühl eines konkreten Mitarbeiters das Bindeglied zwischen Entscheidungen darstellt, die zueinander passen sollen, dann führt die Kollektivierung von Entscheidungen zum Verkettungsbruch. Die Folge sind Wildwuchs, Inkonsistenzen, Beliebigkeit.
Einzige Ausnahme stellen Personenkonstellationen dar, die hochsynchronisierte Gefühle haben. Ein Phänomen, das sich meist erst nach jahrelanger Zusammenarbeit einstellt.
Aber ist das zeitgemäß? Einzelentscheidungen zu treffen? Was ist mit der Weisheit der Masse? Der Schwarmintelligenz? Das frustriert doch die vielen anderen, die dann nicht mitentscheiden dürfen.
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Konflikte meistern und sie sogar gezielt zum Erfolg des Unternehmens nutzen OHNE dabei wertvolle Zeit zu verlieren.
Partizipation ≠ Selbstbestimmung
Alles redet von Hierarchieabbau, Partizipation und Beteiligung und jetzt komme ich mit Einzelentscheidungen um die Ecke. Das passt doch nicht zusammen!
Doch, das tut es.
Einzelentscheidungen und Partizipation sind kein Widerspruch. Partizipation wird nur häufig falsch verstanden. Nämlich als Selbstbestimmungs-Partizipation.
Das ist deshalb der Fall, weil der nötige Abbau der zentralen Steuerung mit dem Anspruch verwechselt wurde, jede Meinung müsse berücksichtigt werden.
Oder anders: Es wird erkannt, dass distanzierte Entscheidungen des Managements auf Basis von aggregierten Kennzahlen und Statusberichten am Ziel vorbeischießen, zu schlechteren Ergebnissen führen und der Komplexität des dynamischen Alltages nicht gerecht werden. Das ist eine weitverbreitete Folge des klassischen Management-Ansatzes, die Anstoß für zahlreiche Transformationsprojekte geworden ist.
Doch in dem Versuch, dieses Muster zu überwinden, landen viele Teams oder ganze Unternehmen in der Konsensfalle, weil sie glauben, alle müssten bei allem mitreden und mitentscheiden.
Der Gegenentwurf zum traditionellen Top-Down Ansatz ist also nicht das Selbstbestimmungsparadies, sondern eine Verschiebung von Entscheidungen an den Ort des Geschehens.
Einzelentscheidungen sind dabei in vielen Fällen die wirksamste Antwort auf die hohe Dynamik. Wenn Du einen Namen brauchst: Viele nennen es den konsultativen oder partizipativen Einzelentscheid.
Denn Partizipation ist in diesem Sinne der gelungene Versuch, Einzelentscheider mit relevanten Impulsen ihrer Kollegen zu versorgen.
So wie sich nahezu jedes Hochzeitspaar Impulse von ausgewählten Freunden wünscht, bei Ideen um Feedback bittet oder sich ganz bewusst den unangenehmen Fragen einer erfahrenen Wedding Plannerin stellt. Doch am Ende ist klar: Entscheiden tut das Hochzeitspaar.
Interessanterweise sehnen sich viele Mitarbeiter genau nach diesen Einzelentscheidungen. Frustrieren tut also weniger die mangelnde Selbstbestimmung, sondern der Eindruck, andauernd mit angezogener Handbremse zu fahren und unter den Möglichkeiten des Unternehmens zurückzubleiben.
Ganz wie bei den zu lang geratenen und völlig aus dem Hochzeitskonzept fallenden gut gemeinten Inszenierungen der Freunde. Hätte doch nur vorher eine Person, einen roten Faden gesponnen.
Lieber Mark, danke für diesen Artikel! Er trifft für mich das beschriebene Phänomen auf den Punkt und äußerst klar wie auch hilfreich. – Als missverständlich kommt mir der Satz zum Eloquenzverlust rüber: Man verliert ja ggf. wegen minderer Eloquenz; der Verlust besteht doch eher darin, dass sich nicht das adäquate Gefühl durchsetzt, weil dieser Aspekt im Diskurs, bei dem dieses zurücksteht, vor der Eloquenz weicht. Oder meintest Du es anders?
Genauso ist es gemeint. Der Verlust / Preis, den man dafür zahlt, dass Eloquenz dominiert, nicht das adäquate Gefühl.
Diesem Kommentar und der Frage schließe ich mich an und danke für die Klarstellung, Mark.
Spannend fand ich zu spüren, wie mein anfänglicher Widerstand bwim Lesen zunehmend gewichen ist.
Mein fortwährender innerer Suchprozess kreist um die Frage, ob der Begriff „Gefühl“ (Assoziation: „Bauchgefühl“, Alternative „Intuition“, siehe https://drvolkerbusch.de/podcast-geheimnis-intuition-gibt-es-eine-innere-stimme/ und Teil 2 dazu) passend ist.
Ein ziemlich spannender Aspekt, den ich aus meiner Praxis auch bestätigen kann. Genauso wichtig wie Eloquenz ist ein Gefühl für das richtige Timing. Entscheidende sind nicht jederzeit für bestimmte Impulse empfänglich.