»Business as usual«, dachte ich, als ich vergangenen Donnerstagmorgen von unserem intrinsify-Teammeeting aus Essen in die hessische Provinz aufbrach. 3,5 Stunden Autofahrt, kurz im Hotel einchecken, dann zum Soundcheck in die Halle und anschließend 3 Stunden warten, bis mein Vortrag beginnt.
Ich war für einen Festvortrag anlässlich des 100-jährigen Bestehens der Firma Anlagenbau Günther GmbH gebucht. Im Rahmen eines Gala-Abends mit Partnern, Lieferanten, lokaler Politprominenz, Medien und weiteren Gästen möge ich doch bitte den Anwesenden einen Blick von außen auf ein familiengeführtes Maschinenbauunternehmen schenken, so die Erwartungshaltung. Es dürfe gerne kritisch-inspirierend sein, bitte auch unterhaltend, schließlich sei es eine Abendveranstaltung. Solche Aufträge nehme ich stets sehr ernst: Vorgespräch, Umfeld und Details des Unternehmens recherchieren, passende Anekdoten heraussuchen, Vortragsstruktur entwickeln, ausführlicher Technikcheck – das volle Programm.
Diese Aufzählung erweckt den Eindruck einer gewissen Geschäftsmäßigkeit und eines routinierten Prozesses. Das hat für mich eine sehr funktionale Seite. So kann ich meine Vorträge immer wieder verfeinern, Anekdoten und Analogien straffen, Einstiege und Pointen testen. Doch die Kehrseite: Die Magie leidet. Wenn Anlass oder Location nicht besonders sind, fühlt sich der ein oder andere Vortrag wie ein „Job“ an, so ehrlich muss ich sein. Es gab schon Vorträge, bei denen ich mich regelrecht neben mir stehen sah und durchkalkulierte, wann ich aufbrechen müsste, um rechtzeitig am Bahnhof oder Flughafen zu sein.
Ja, genau so ein Vortrag hätte es werden können in der hessischen Provinz. Aber es kam anders.
Die Veranstaltung selbst hatte nichts Provinzielles. Moderne Location, großer Saal mit üppiger Bühne, ausufernde Licht- und Tontechnik, geschmackvolle Deko, alles hochprofessionell organisiert. Hier war dem Gastgeber seine Gastgeberschaft offenbar sehr wichtig – so etwas imponiert mir. Die Gäste hatten Festkleidung angelegt, es wirkte dennoch lässig, nichts Verbissenes oder Steifes. Die Sonne strahlte. Ich wartete zunächst etwas abseits, Smalltalk liegt mir nicht so.
Zu Beginn des Programms wurde ich an dem Ehrentisch platziert, gemeinsam mit dem Unternehmerehepaar, dem dritten Geschäftsführer, dem Landrat und den zwei wichtigsten Geschäftspartnern. Vor meinem Vortrag gab es obligatorische Grußworte und die Dankesrede von Bernd Günther, dem Inhaber, Geschäftsführer und Enkel des Gründers Heinrich Günther.
Die von ihm vorgetragene Unternehmensgeschichte war ein hochemotionaler und persönlicher Rückbezug auf seine Vorfahren und berührte mich sehr: Heinrich gründete den Betrieb 1924 als Spenglerei (für die Jüngeren unter euch: ein Fachbetrieb für Blechverarbeitung) in der noch ruhigen Zeit der Weimarer Republik. Heinrich muss ein typischer Handwerker seiner Zeit gewesen sein, mit dem tiefen Wunsch, seine Familie zu ernähren und seiner Leidenschaft zu frönen: Basteln, Entwickeln, Erfinden und Bauen, was die Kunden haben wollten. Wenn jemand kam und sagte, er bräuchte ein Waschbrett oder eine Milchkanne, so produzierte er diese individuell nach Kundenwunsch aus Blech, das er sich zunächst aus kleinen Stücken alter Militärdosen zusammenbasteln musste.
Immer wieder betonte Bernd Günther, sein Großvater und Vater hätten „aus der Not heraus“ agiert. Was anfangs für mich noch wie eine Floskel klang (›ja ja, die guten alten Zeiten‹), wurde mit ständiger Wiederholung und anekdotischer Unterlegung zu einer regelrechten Sprachfigur, die – so weiß ich inzwischen – als Muster tief in die Kultur des Unternehmens eingesickert ist.
„Aus der Not heraus“ ist in diesem Fall nicht die Metapher für eine bedrückende Dauerkrise und eine beständig lauernde Gefahr. Sie übt auch keinen subtilen Druck auf Unternehmensleitung und Belegschaft aus, sondern wirkt als Gründungsmythos und Inspiration. „Aus der Not heraus“ dient im Unternehmen Günther als Umschreibung für den gelebten Fokus auf die Wünsche des Marktes. „Aus der Not heraus“ referenziert auf den Zweck des Unternehmens, nämlich Wertschöpfung für Kunden zu erbringen. Und es bewahrt so vor Großmut und Gier.
100 Jahre später ist Anlagenbau Günther mit gerade einmal 150 Mitarbeitern Weltmarktführer einer technischen Nische für Recyclingmaschinen: Nicht schlecht, vor allem, da nur 2 % aller je in Deutschland gegründeten Unternehmen überhaupt ihren einhundertsten Geburtstag feiern.
Ich saß nach dem offiziellen Teil und meinem Vortrag noch bei einem Bierchen mit Bernd Günther am Tisch und fragte ihn, wie er es heute schafft, das Unternehmen voll auf Wertschöpfung zu konzentrieren. Und wie ich es erwartet hatte: Er konnte die Frage quasi nicht beantworten. Ich vermute, er hat sie noch nicht einmal so richtig verstanden. Es ist ihm nämlich nie in den Sinn gekommen, irgendeinem zeitgeistlichen Chi-Chi zu folgen, dem inzwischen viele Konzerne und leider auch manch überheblicher Mittelständler verfallen sind. „Aus der Not heraus“ startet niemand ein Sabbatical-Programm oder eine Mindset-Initiative, behaupte ich mal frech.
Ständig gibt es im Unternehmen Günther kleine Innovationen, Neuerungen oder Veränderungen, aber mir scheint, die dreiköpfige Geschäftsleitung wäre noch nie auf die Idee gekommen, einen großangelegten ›Change‹ auszurufen. Sie lenkt stattdessen ihren Blick und den ihrer Mitarbeiter ständig auf die Probleme der Kunden und die Angebote der Wettbewerber.
Versteht mich richtig: Mir steht es nicht zu, Bernd Günther als Rolemodel zu positionieren. Ich kenne ihn ja gar nicht richtig. Sicher hat er auch Schwächen. Vielleicht gehört er zu denjenigen Familienunternehmern, die Fürsorge für die Mitarbeiter mit Paternalismus und Entzug der Mündigkeit verwechseln. Anzeichen dafür habe ich nicht entdeckt, aber wer weiß? Oder er verfügt über charakterliche Abscheulichkeiten, die mir im kurzen, aber intensiven Gespräch verborgen geblieben sind.
Aber ungeachtet seiner individuellen Stärken und Schwächen hat er wohl intuitiv einen wesentlichen Teil von Unternehmensführung perfekt ausgefüllt: Er hat ein hochfunktionales Kulturmuster geschützt, das den zukünftigen Erfolg wahrscheinlich macht: „Aus der Not heraus“.
Die ständige Chance, den Markt kommunikativ ins Unternehmen eindringen zu lassen, verringert nämlich die Gefahr für organisationale Verblödung drastisch und schafft die Bedingung der Möglichkeit für Erfolg.
Kein Wunder, dass Bernd Günther allen Widrigkeiten aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zum Trotz eine ungemein ansteckende Zukunftsfreude ausstrahlt. Womöglich gehört sein Unternehmen in fünf Dekaden dann zu den nur noch 1 %, die auch ihren 150. Geburtstag feiern.
Wir haben uns für den Herbst zum Vermouth-Trinken in Barcelona verabredet, und ich freue mich sehr darauf.