Ich habe schon häufiger die Denk-Schlampigkeit gegeißelt, der Führungskräfte unnötigerweise verfallen, wenn sie Korrelation mit Kausalität verwechseln. Bei Boulevard-Überschriften wie »Verheiratete Männer leben länger« ist das noch lustig-anekdotisch. Bei der Aufforderung, sog. »Level 5-Führungskräfte« (Jim Collins in »From Good to Great«) zu etablieren, um anhaltenden wirtschaftlichen Erfolg zu ernten, wird aus dem Humoristischen schnell etwas Toxisches.
In meinem bereits 2014 erschienenen Buch »Wrong Turn – Warum Führungskräfte in komplexen Situationen versagen« habe ich diese Art Denkfehler als dumme Irrtümer bezeichnet. Und wem diese dummen Irrtümer zu banal sind, für den gibt’s noch ein Upgrade, den Professional Level: die intelligenten Irrtümer. Es lassen sich nämlich durchaus Phänomene beobachten, die kausal etwas miteinander zu tun haben, selbstverständlich. Das heißt konkret: Das eine Phänomen ist die Ursache des anderen. Es lässt sich korrekterweise in eine kausale Verbindung bringen – nur die Richtung ist falsch. Daher der intelligente Irrtum. Quasi Geisterfahrer mit Abitur.
All diese Denkfehler – und noch viele mehr – stehen Verantwortung im Wege.
Die Über-Vokabel
Verantwortung ist in unserer Gesellschaft eine Art Über-Vokabel geworden, insbesondere im wirtschaftlichen Kontext. Kaum ein professorales, journalistisches, neurobiologisches, volkswirtschaftliches oder politisches Statement kommt noch ohne die Forderung nach mehr Verantwortung aus. Und egal, was ihr für Missstände in der Wirtschaft beobachten könnt (Volkswagen, Wirecard, Credit Suisse, Lehmann Brothers, Tönnies, Deutsche Bank, Arcandor, Schlecker), stets wird reflexartig auch die Verantwortungslosigkeit der handelnden Personen angeprangert.
Es geht auch eine Nummer kleiner: „Verantwortungslosigkeit“ ist auch in ansonsten sehr gesunden Unternehmen nach meiner Beobachtung eines der meist beklagten Symptome von Top-Managern, wohlgemerkt dann, wenn sie über ihre Führungskräfte sprechen. Aber Verantwortung hat nur oberflächlich etwas mit den Fähigkeiten oder guten Absichten einzelner zu tun. Denn zumeist müssen sich die handelnden Personen gegen übermächtig scheinende Gegner wehren, die ihnen Verantwortung ständig zu entreißen versuchen, so wie früher die Schaufel im Sandkasten durch den unerzogenen Nachbarsjungen.
Rumpelstilzchen, der erste Gegner
Die beiden großen Gegner von Verantwortungsübernahme sind Geschwister. Gut getarnt, beide in ganz unterschiedlichem Gewande. Der eine führt sich eher so wie Rumpelstilzchen auf, tanzt höhnisch um Konferenztische herum und singt dabei feixend: »Wie gut, dass niemand weiß …«. Er nutzt aus, dass ihr Führungskräfte ständig abgelenkt seid und angeblich immer ganz schnell entscheiden müsst. Wenn Rumpelstilzchen noch klein ist, dann gibt er sich Namen wie ›Methode‹, ›Best Practice‹ oder kommt als Listical daher (›Mit diesen 7 Prompts verhilft Dir die KI zum dauerhaft erfolgreichen Unternehmen‹).
Viele von euch fühlen sich von Rumpelstilzchen angezogen, weil er so niedlich ist und ihr bemerkt die kleinen Unachtsamkeiten und Denkfehler gar nicht sofort. Ihr möchten den Kleinen fast schon streicheln und ihm Leckerlis anreichen. »Schau mal, er macht Männchen«.
Aber Vorsicht, schon der kleine Denkfehler kann empfindlich zubeißen, wenn ihr nicht aufpasst. Noch schmerzlicher kann Rumpelstilzchen im ausgewachsenen Zustand werden. Dann nämlich mutiert er zur Ideologie, einem Zusammenschluss von hunderten Denkfehlern, die ärgerlicherweise auch noch konsistent sind. Und dann ist Schluss mit niedlich.
Wer Ideologien anheimfällt, der hinterlässt nicht selten eine Spur der Verwüstung. Und das auch trotz guter Absichten. »Das habe ich nicht gewollt«, heißt es dann später. Oder präziser: »Das habe ich nicht bedacht«.
Ideologien in der Wirtschaft haben oft kunstvolle Namen, so wie Shareholder Value oder Lean Management. Beides war mal gut gemeint und doch nur selten gut gemacht. Als ich diesen Beitrag im Mai 2016 erstmals veröffentlicht habe, hoffte ich noch, dass Begriffe wie Digitale Transformation oder Industrie 4.0 lediglich technologische Entwicklungen beschreiben und nicht zu Management-Ideologien ausarten. Ich war damals nicht ganz sorgenfrei. Zurecht, wie sich leider herausgestellt hat. Und heute spreche ich diese Hoffnung in Bezug auf die Segnungen Künstlicher Intelligenz aus und werde vermutlich wieder enttäuscht.
Rumpelstilzchens Schwester
Die ältere Schwester von Ideologie trägt feines Tuch, gar schon ein pompöses Gewand. Mit viel Schmuck und schönen Farben. Sie hat fast schon was Majestätisches und trägt den Namen Moral.
Moral galt schon immer als Ersatz für Verantwortung und biedert sich uns allen quasi ständig an. Moral ist relativ leicht zu haben, sie fällt förmlich von oben herab oder steht bei LinkedIn. Viele teilen sie, weil sie anschmiegsam ist und so schön anzuschauen.
Dabei hat Moral schon jahrhundertelang den Zweck, Selbsterfahrung und Verantwortung zu verhindern. Heute kommt sie nicht mehr so miefig verstaubt daher, sie dreht Reels, podcastet oder postet auf TikTok. Ihre Wirkung ist aber oft die gleiche geblieben. Eigentlich hatte schon Lessing – oder war es Voltaire – in unser kollektives Tagebuch geschrieben, dass Moral viel zu schlicht sei für unsere Zeit. Und trotzdem erfreuen sich die Beiträge größter Beliebtheit, die mit »Wir sollten …«, »Wenn nur jeder …« oder »Wir brauchen …« beginnen und die größeren Probleme unserer Zeit zu lösen versuchen – nur um gleich darauf mit »Word«, »Endlich bringt es mal einer auf den Punkt« oder »So ist es!« zu antworten.
Die Krux: Natürlich kann ich selbst nicht moralfrei über Moral schimpfen. Und die komplexitätsreduzierende Wirkung von Moral ist fast schon überlebenswichtig. Dennoch hält mich und euch Moral – wenn wir nicht aufpassen – förmlich wollüstig von echter Problemlösung ab sowie eben von Verantwortungsübernahme.
Ich tute also letztlich in das gleiche Horn, wenn ich euch zurufe: Heute geht es um das Gegenteil von Moral, nämlich um Verantwortung. Und dafür muss etwas in die Waagschale geworfen und Gesicht gezeigt werden. Skin-in-the-game heißt das bei den Amerikanern. So wie früher der Baumeister eine Nacht unter seiner Brücke schlafen musste, bevor sie freigegeben wurde, oder ein Politiker nur dann für Krieg stimmen durfte, wenn er einen eigenen Sohn in den Krieg entsandte.
Führungstools für Höchstleister
Future Leadership Toolkits
Neue Typen oder neue Organisationen?
Braucht es also heute mehr Typen mit echtem Verantwortungsgefühl in den Unternehmen? Ist Verantwortungslosigkeit ein persönliches Defizit?
Vielleicht auch.
Mir geht es aber hier um etwas anderes, nämlich um die organisationale Förderung von Verantwortungslosigkeit. Menschen handeln in ihrem Kontext nahezu immer vernünftig – jedenfalls nach ihrem eigenen Verständnis von Vernunft. Und wenn euch das Verhalten von Menschen in Organisationen als blöd erscheint, dann deutet vieles darauf hin, dass nicht der Mensch blöd ist, sondern sein Kontext blödes Verhalten belohnt. Verantwortungslosigkeit ist dann zunächst keine Ursache für das Problem, sondern die Lösung für ein anderes.
Wenn ich auf die Suche danach gehe, ob womöglich die Unternehmensorganisation Verantwortungslosigkeit vernünftig macht, dann fallen mir sofort all die tayloristischen Praktiken ein, die sich Unternehmen von Rumpelstilzchen aufgeschwatzt haben lassen. Auch bei euch?
Ausufernde Regelsysteme beispielsweise (»Du brauchst hier nicht selbst zu denken, das haben andere verantwortungsvolle Menschen schon für Dich getan.«). Oder abteilungsbezogene, oft gar individuelle Bonussysteme (»Wenn jeder an sich selbst denkt, ist ja an jeden gedacht.«).
All diese Praktiken sind aus gutem Grund und mit guter Absicht entstanden. Zumeist, weil sie hohe Effizienz versprachen – die Erfolgswährung des Industriezeitalters und der Verkäufermärkte. Diese Systeme sind aber längst reihenweise kollabiert (ihr erinnert euch an die Liste von oben, die mit Volkswagen und Schlecker). Nicht weil es unmoralisch wäre, sondern zu teuer.
Die Kollateralschäden tayloristischen Managements sind kaum noch finanzierbar. Die Schaffung organisationaler Strukturen, die Verantwortung fördern, ist kein moralischer Gnadenakt für die Menschen, sondern eine wirtschaftliche Notwendigkeit.
Mit dieser Erkenntnis könnt ihr euch aussichtsreich gegen die beiden Geschwister stemmen, wenn ihr mögt.
…wenn da nicht noch die Mutter der Beiden wäre: die Denkfaulheit. Aber das ist eine andere Geschichte und soll später erzählt werden …
Hinweis: Dieser Beitrag wurde erstmals im Mai 2016 auf larsvollmer.com veröffentlicht und für die Neuauflage komplett überarbeitet.