Die Geschichte eines befreundeten Vertrieblers geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Er ist stellvertretender Vertriebsleiter eine halbe Milliarde Euro Umsatz schweren Maschinenbauunternehmens, genießt das Vertrauen der Geschäftsführung und darf im Namen des Unternehmens wichtige Verhandlungen führen.
Er fliegt nach Venezuela, um mit einem wichtigen Kunden den Kauf einer großen Anlage zu verhandeln. Da sitzt er eine Woche lang in schwülheißen Meetingräumen, kämpft wie ein Löwe um den Deal, handelt Details aus, sucht nach technischen und kommerziellen Lösungen für die unerwarteten Wünsche des Kunden, bleibt hart in der Preisverhandlung und läuft schließlich mit einer Unterschrift aus dem Büro – Kaufvertrag über einen hohen zweistelligen Millionenbetrag mit fetter Rendite. Yeah!
Erschöpft fliegt er mit Umsteigen in New York nach Hause und wird dort zuerst gefeiert … und dann tags drauf von der Reisekostenstelle darauf angesprochen, warum er ein Taxi vom Flughafen La Guardia zum Flughafen JFK genommen hat, anstatt öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, wie es nun mal in der Reisekostenrichtlinie steht.
Mein persönlicher Zynismusgenerator wäre vermutlich jetzt schon auf Hochtouren gelaufen, wenn dies mir passiert wäre. Er bleibt ruhig. Buddha wirkt dagegen wie ein Kleinkind zu Weihnachten kurz vor der Bescherung.
Das ändert sich aber: Drei Tage später sitzt er (also mein Freund, nicht Buddha) in einem Workshop, in dem die neuen Unternehmenswerte diskutiert werden sollen. Da werden schöne Kärtchen mit bunten Nadeln an die Wand gepinnt, hübsche Männchen ans Flipchart gemalt und über Vertrauen geredet. Jetzt ist selbst seine Geduld zu Ende.
Überall werden Werte gefordert
Eine schöne Anekdote. Bei der es mir aber nicht in erster Linie um die Heuchelei geht, die aus der Abfolge der Ereignisse deutlich werden könnte, sondern vielmehr um die Sinnlosigkeit der Forderung nach Vertrauen oder egal welchen positiven Werten, die in Unternehmen so populär geworden sind.
Ich unterstelle Folgendes: Da hat mal jemand in ein erfolgreiches Unternehmen hineingeschaut und es wurde ihm erzählt, dass sich dort alle ganz doll vertrauen (ich gehe wohlwollend, aber auch realitätsfern davon aus, dass der Halo-Effekt effektiv ausgeschaltet werden konnte). Die Mitarbeiter vertrauen ihren Vorgesetzten, die Führungskräfte den Abteilungsleitern, die Sachbearbeiter in der Spesenabrechnung den Mitarbeitern und so weiter.
Großartig!
Aber dann passiert dieser blöde Bias, den ich in meinem Buch »Wrong Turn« als intelligenten Irrtum bezeichnet habe: nämlich, dass Ursache mit Wirkung vertauscht wird. Plötzlich heißt es dann: »WEIL wir uns vertrauen, sind wir so erfolgreich geworden.« Das nehmen sich andere Unternehmer dann zum Vorbild, fordern Vertrauen als Wert im eigenen Unternehmen (als würde so etwas funktionieren) und erwarten dann, dass sie dadurch ebenfalls erfolgreich werden. Wenn es beim anderen geklappt hat, müsste es ja auch bei ihm klappen. Logisch.
Und so wird heutzutage in vielen Unternehmen, konkret in der Chefetage, der Personalabteilung, im Qualitätsmanagement – einfach überall – darauf gepocht, dass die gesamte Belegschaft bestimmte Werte haben müsste, um das Unternehmen erfolgreich zu machen. Bloß, weil die Chefs denken, diese seien ursächlich für Erfolg.
Vom intelligenten zum dummen Irrtum
Nun ist es natürlich toll, in einem Unternehmen zu arbeiten, in dem sich die Kollegen vertrauen. Ich durfte das selber schon in mehreren Konstellationen spüren. Einfach großartig. Hohe Loyalität macht auch Spaß. Und Leistungskultur, Fehlerkultur, etc. sind klasse in der Arbeitswelt. Als jahrzehntelanger Lehrling der Systemtheorie weiß ich auch, dass Vertrauen wirkungsvoll die Komplexität senkt. Aber dass auch nur einer dieser Faktoren Ausgangspunkt für den Erfolg eines Unternehmens sein soll, ist deutlich zu romantisch, um wahr zu sein.
Vielleicht entsteht nämlich – um beim Anfangsbeispiel zu bleiben – in einem Unternehmen gerade andersherum dann Vertrauen, wenn die Beteiligten erkennen, dass sie erfolgreich sind. So wie in einer Fußballmannschaft gegenseitiges Vertrauen entsteht, wenn Pässe ankommen, Tore aus geschicktem Überzahlspiel resultieren oder einfach nur ›die Mauer steht‹.
Und Vorsicht, jetzt landen wir noch bei einem dummen Irrtum: Vielleicht gibt es überhaupt gar keine Kausalität zwischen bestimmten Werten und Erfolg. Lediglich eine Korrelation, also eine Gleichzeitigkeit. So wie bei Storchenpopulation und Geburtenrate. Die hängen rein statistisch auch zusammen. Aber niemand von euch würde auf die Idee kommen zu behaupten, der Storch bringe die Babys oder Störche würden sich besonders gerne dort niederlassen, wo es viele Babys gibt.
Warum überhaupt positive Werte?
Und ich habe mich gefragt, warum werden so häufig Werte als Erfolgsfaktoren herausgegriffen, die moralisch positiv belegt sind, so wie Vertrauen, Loyalität, Wertschätzung, Fehlertoleranz? Wenn Werte doch kausal verantwortlich für Ergebnisse sind, dann müsste doch die Argumentation auch in folgender Gestalt schlüssig sein: »Apple ist sehr erfolgreich. Und die Mitarbeiter sind stolz, für Apple zu arbeiten. Apple hatte jahrelang einen Gründer, der seine Ideen durchgeboxt hat, komme was wolle. Und cholerisch war dieser Steve Jobs ja angeblich auch. Also los: »Wenn wir ebenfalls so erfolgreich wie Apple werden wollen, dann brauchen wir mehr Choleriker!« Das ist doch stimmig, oder?
Ich habe noch eine Idee: Den Albrecht-Brüdern von Aldi ebenso wie noch heute dem IKEA-Gründer Ingvar Kamprad wird nachgesagt, sie seien extrem geizig. Dass beide Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich sind, dürfte kaum jemand abstreiten. Also neue Werte-Propaganda: »Wir brauchen mehr Geiz in unserem Unternehmen.«
Solche Schlussfolgerungen habt ihr aber noch nie gehört. Ich auch nicht. Dabei ist die Forderung nach einem cholerischen Chef ähnlich substantiell wie die Forderung nach Vertrauen.
Die gleiche Verdrehung, der gleiche Irrweg. Da wird ex post, also nachdem etwas schon gelaufen ist, ein Zustand festgestellt, und daraus der Rückschluss gezogen, dass es einfach nur von Anfang an so hätte laufen müsse, um erfolgreich zu werden.
Gerade die Forderung nach bestimmten Werten wie Loyalität und Vertrauen hält sich hartnäckig. Ich habe sogar den Eindruck, dass sie immer mehr werden. Warum auch immer …
Sei so, wie es auf dem Plakat steht!
Mein Vorschlag: Befreit euch von der Vorstellung, ihr müsstet bestimmte Werte propagieren, vorleben oder gar von anderen vorleben lassen. Es erzeugt keine Lösung. Es erzeugt nur Schuldige und Helden, gute und schlechte Menschen (hier: Führungskräfte). Es vernebelt euer klares Denken. Und führt bestimmt nicht zu dem Erfolg, den ihr euch davon erhofft.
Außerdem leben Führungskräfte ihre Werte ohnehin schon vor – die können ja gar nicht anders. Die haben doch bestimmte Gefühle und Werte. Und wenn sie normal agieren, ohne sich zu verstellen, dann ›leben‹ sie die auch.
Jetzt könnte es natürlich sein, dass diese Werte dem ein oder anderen nicht passen, dass sich jemand davon auf den Schlips getreten fühlt oder eben eine andere Vorstellung hat. Und wenn ihr die Führungskraft jetzt auffordert, sie müsse ›bessere‹ Werte vorleben, dann kommt das der Aufforderung gleich, Theater zu spielen und zu heucheln.
Nach dem Motto: »Sei so, wie es auf dem Plakat steht!«
Das führt natürlich keinesfalls dazu, dass tatsächlich bessere Werte existieren – was auch immer »besser« in diesem Zusammenhang bedeuten soll. Lediglich dazu, dass sich Führungskräfte verstellen und Mitarbeiter mangels Authentizität skeptisch werden.
Kurz: Von Chefs zu fordern, dass sie bestimmte Werte vorleben sollen, führt nicht zu besseren Werten und mehr Erfolg, sondern ist letztlich nur eines: Dressur at its best.
Hinweis: Dieser Beitrag wurde erstmals im September 2015 veröffentlicht und für die Neuauflage komplett überarbeitet.
Hallo Lars,
danke für diesen anregenden und auch leicht provokanten Beitrag 😉
Ich habe mich beim Lesen selbst ertappt, dass ich bisher wie selbstverständlich davon ausgegangen bin, dass ein Unternehmen bestimmte Werte benötigt, um erfolgreich zu sein – und diese Werte dann natürlich auch von den Führungskräften, Geschäftsführung zuvorderst, vorgelebt werden müssen.
Was ich nicht zu 100% herausgelesen habe: Ist das Herausstellen von Unternehmenswerten aus deiner Sicht ganz generell überflüssig oder beziehst du es hier explizit auf den Anspruch, diese müssten unbedingt von Führungskräften vorgelebt werden?
Ich merke, dass diese Frage in mir selbst gerade einen Konflikt auslöst: Einerseits denke ich eigentlich nach wie vor, dass die Werte eines Unternehmens ihren Zweck in dessen Außenwahrnehmung erfüllen können, z.B. beim Recruiting neuer Talente. Andererseits denke ich mir nach Lesen dieses Beitrags aber auch: Was bringen mir nach außen kommunizierte Unternehmenswerte, wenn ich sowieso keine Garantie habe, dass diese auch mit den persönlichen Werten der Führungskräfte und Mitarbeiter:innen matchen und somit auch nicht, dass diese tatsächlich gelebt werden? Dann sind wir am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit ohnehin beim Theaterspiel.
Was ist dein Take dazu?
Hallo Sören, als den größten Theater-Provocateur sehe ich proklamierte Werte, also erdachte, gewünschte und anschließend propagierte Werte. Dies gilt – da stimme ich Dir zu – gleichermaßen für die Kommunikation nach außen (in ihrer Marketingfunktion) wie nach innen (Leitbildfunktion).
Die Alternative: Ich beobachte sehr inspirierende Praxisbeispiele, in denen Unternehmen den Versuch wagen, ihre tatsächlichen(!) Werte oder auch kollektiven Glaubenssätze zu dokumentieren. Zum Beispiel in Form von Culture-Books, in denen Mitarbeiter – und das ist entscheidend: ohne redaktionelle Einmischung zu Wort kommen. Dies kann nach meiner Einschätzung die kulturelle Identität schon stärken und dürfte meist wenig Schaden anrichten. Aber auch in diesem Fall zweifele ich eine Kausalität zu Unternehmenserfolg stark an.
Hallo Lars, da hast Du mal wieder den Daumen im Dampf. Meine Meinung: Tatsächlich ist es angenehmer, in einem Unternehmen zu arbeiten, in dem Führungskräfte und Kollegen einfach freundliche und anständige Menschen sind. Aber vom Aufschreiben einiger Kriterien von „freundlich und anständig“ ist es noch keiner freundlich und anständig geworden. Und manchmal helfen auch die besten Vorbilder nix.
Danke Ute, Du hast es wohltuend pointiert zusammengefasst.
Hallo Lars, vielen lieben Dank! Das ist Wasser auf meine Mühlen. Wie auch Mark in seinem Buch geschrieben hat ist es ja so, dass wenn wir alle wie Spotify arbeiten (agil und so), werden wir auch so erfolgreich wie Spotify…
Oder auch ein anderes beliebtes Thema: Wenn wir doch unseren Mitarbeiter*innen vertrauen, warum holen wir sie wieder alle ins Büro zurück 😉 #eslebejohnnykontrolletti