»Auf ein Glas mit Lars«

Gelb-Rot – Absurde Folge eines Torjubels

Warum laute Denkmodelle in komplexen Situationen versagen
Warum die Annahme, man "müsse" Komplexität senken Unsinn ist, versucht Lars Vollmer wieder mit seiner Lieblingsanalogie zu erklären: Fußball!
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Dritter Spieltag der Bundesligasaison 2012/13: Hannover 96 gegen Werder Bremen. Mit einem Freistoß sorgt Huszti bereits in der sechsten Minute für das 1:0. Nur vier Minuten später bereitet er mit einem Kopfball das 2:0 für Hannover vor. In der 26. Minute führt ein vermeidbares Handspiel zum 2:1 durch Elfmeter. Und in der 74. Minute, nach einem packenden Spiel, gelingt den Bremern endlich der Ausgleich. Doch in der Nachspielzeit dann der entscheidende Treffer für Hannover 96. Ein herrlicher Fallrückzieher von Huszti – und das Ding ist drin! Ein Traumtor!

Was dann passiert, wird als einer der schrägsten, unglaublichsten Momente in die Geschichte der Bundesliga eingehen.

Huszti reißt sich vor Freude das Trikot vom Leib, rennt in Richtung Tribüne, springt über die Bande und klettert auf den Zaun des Fanblocks der 96er, um sich feiern zu lassen. Kaum ist er zurück auf dem Platz, zeigt ihm Schiedsrichter Deniz Aytekin zunächst die Gelbe Karte – für das Entblößen des Oberkörpers – und dann Gelb-Rot, weil er den Zaun erklettert hat! Gerade noch bejubelt, in der nächsten Sekunde vom Platz gestellt und im nächsten Spiel gesperrt. Der arme Huszti kann es nicht fassen. Die 49 000 Zuschauer im Stadion ebenso wenig.

Diese Geschichte ist vor allem deshalb so kurios, weil jeder einzelne Fan im Stadion nach diesem Spielverlauf und dem spektakulären Siegtreffer Husztis ausgelassenen Jubel nachvollziehen konnte. Niemand sah darin ein zu bestrafendes Verhalten. Weder wurde ein Gegenspieler gefährdet, noch gab es ein unsportliches Verhalten. Die Entscheidung des Schiedsrichters war nicht hart, sie war absurd … doch halt!

Wrong Turn!

Deniz Aytekin traf hier überhaupt keine Entscheidung! Der Schiedsrichter »entschied« nichts, sondern wandte schlicht und einfach die Regeln an: »Mir blieb gar nichts anderes übrig, als das durchzuziehen«, lautete später sein Kommentar, in dem hörbares Bedauern mitschwang.

Dieses Bedauern teilt sich Herr Aytekin mit einigen von euch, auch wenn ihr vermutlich selten Bundesliga-Spiele pfeift. Denn Regeln betonieren Wenn-dann-Beziehungen. So wie alles, was auch in Organisationshandbüchern verzeichnet ist. Dort ist eine klare Abfolge von Ereignissen und Reaktionen festgeschrieben, die wenig bis gar keinen Spielraum für »Entscheidungen« lässt! Fallrückzieher in der letzten Spielminute rechtfertigen da keine Sonderregel. Ein Oder, Ob oder Vielleicht ist nicht ausgeschlossen, geschieht aber auf eigene Gefahr. Denn das Wenn-dann-Prinzip kennt typischerweise nur den Weg der geradlinigen Exekution, wie die Umstände sich auch immer entwickelt haben mögen.

Der Knackpunkt ist: Wenn ihr euch – ob nun als Schiedsrichter, Team-Leiter oder Top-Entscheider – nach solchen Regelwerken richtet, dann entscheidet eben gar nicht ihr selbst. Dann seid ihr weder Richter noch Entscheider, sondern eher eine Art Vollstrecker. Ihr überlasst jemand anderem die Entscheidungskompetenz, indem dieser die Regeln beschließt und für gültig erklärt. Von diesem Moment an sind das Denken und Entscheiden für alle anderen ausgeschaltet. Der Stein rollt ins Tal, komme, was da wolle.

Die meisten Unternehmen haben sich mit einer ganzen Armada solcher Entscheidungs-Vernichtungs-Instrumente umgeben: feste Prozesse, fixierte Umsatz- und Kostenpläne, turnusgerechte Mitarbeitergespräche, Checklisten, Gesprächsleitfäden, Beförderungsrichtlinien, Stellenbeschreibungen, Besprechungsregeln, Reisekosten-Verordnungen, usw.

Unternehmen und Organisationen, die sich solchen Praktiken und Handlungsmustern unterworfen haben, sind – bitte im übertragenen Sinne zu verstehen – nichts anderes als Kugelbahnen, wie sie kleine Kinder gerne zum Spielen geschenkt bekommen: Oben kommt eine Kugel rein – unten kommt sie wieder raus. Klick-klack. Die Kugel läuft immer dieselbe Bahn. Immer dieselbe Wendung.

Darauf werden Kinder schon von klein auf getrimmt: Für Schulen existieren verbindliche Lehrpläne, die für jede Klassenstufe klar definierten Lernstoff festschreiben. Unterschiedliche Entwicklungs- und Wissensstände der Schüler in der Klassenstufe? Interessieren bestenfalls den Lehrer, den Lehrplan aber nicht. Besonderheiten der Schulklasse, zum Beispiel der Anteil von Migrantenkindern oder Hochbegabten? Fehlanzeige. Besondere Situationen? In der Regel nicht vorgesehen. Den Lehrern geht es nicht anders als dem Schiedsrichter Deniz Aytekin: Regel ist Regel, Plan ist Plan. Entscheidungsspielraum: äußerst gering, sonst gibt es Ärger, vom Amt oder von den Eltern.

5. Klasse, zweites Halbjahr: Neandertaler. Klick-klack. Trikot-Ausziehen plus Jubel am Zaun: Gelb plus Gelb-Rot. Klick-klack. Für die Überarbeitung der Preisliste ist die Vertriebsabteilung zuständig. Klick-klack. Der Sachbearbeiter im Einkauf darf nur bis 5000 Euro bestellen. Klick-klack. Für den Kauf eines Diktiergeräts braucht es die Genehmigung von oben. Klick-klack. Bei Geschäftsreisen sind öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Klick-klack.

Klick-klack. Crash.

Solche Handlungsvorgaben zähle ich zu der Gattung der »lauten Modelle«. »Wenn A, dann B!« Klick-klack. Das Problem dabei: Diese Vorgaben regeln alles und lenken alles in gewohnte Bahnen. Ihr habt es dabei mit einem Automatismus zu tun, der jeden Fall, jedes Ereignis und jede Konstellation gleich behandelt. So wie eine Ampel stur nach einem festen Rhythmus den Verkehr regelt. Das Denkmodell bzw. die Praktik oder Regel hat eine neue Rolle bekommen: Es ist so »laut«, dass es befiehlt.

Leider können Regeln nicht denken. Wozu auch? Klick-klack.

Um nicht missverstanden zu werden: Regeln sind ein probates Mittel und funktionieren hervorragend – WENN sie nicht mit zu vielen Überraschungen umgehen müssen, wenn es also nicht zu komplex wird.

Ein brauchbares Modell für komplexe Situationen dagegen muss stumm sein. Das heißt konkret: Soll es für komplexe Situationen taugen, dann sollte ein Modell höchstens ein Werkzeug sein, das beim Denken hilft – so wie beispielsweise ein Prinzip. Aber es sollte niemanden davon entbinden, selber zu denken und Entscheidungen vorwegzunehmen.

Der immense Vorteil dieser »stummen Modelle« liegt darin, dass sie den Benutzer nicht erblinden lassen. Im Gegenteil – sie weisen ihm Verantwortung zu und gewähren ihm so die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, schlauer zu werden.

Anmerkung: Der Artikel erschien erstmals im Jahr 2016 im deutschen Ableger der amerikanischen Huffington Post und wurde für die Neuveröffentlichung im intrinsify-Magazin umfänglich überarbeitet.

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Auf ein Glas mit Lars
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