„Mach Dein Bett“ – dazu hat Bill McRaven in seiner Commencement Speech bei der „University of Texas“ aufgerufen. Übrigens ein echt sehenswerter Vortrag, wie ich finde.
Bloß kann ich mein Bett nicht machen, denn meine Frau steht immer mindestens eine Stunde nach mir auf.
Nun, so wörtlich meinte er es ja auch nicht. Es ging ihm um einen Effekt, der Dir vermutlich bekannt ist: Wenn Du Dir irgendein morgendliches Ritual zu eigen gemacht hast, das mindestens ein bisschen Überwindung kostet, belohnt Dich Dein innerer Richter mit dem, was Jens Corssen als Überwindungsprämie bezeichnet.
Ich betreibe schon seit über 10 Jahren Morgenroutinen, die sich immer mal wieder ändern. Aktuell ist es eine Atemtechnik, ein kleines Workout und in den kälteren Monaten der Sprung in meine Eistonne.
Weil ich sehr selten eine Ausnahme mache, habe ich gelernt, dass ich mich selbst ernst nehmen und mich auf mich selbst verlassen kann. Das vermittelt mir ein Gefühl von Handlungsfähigkeit, Mündigkeit und Verantwortung für mich selbst. Ich habe gelernt, dass ich selbst für mein eigenes Glück sorgen kann und dafür nicht von anderen abhängig bin.
Dadurch bin ich auch sehr sensibel für Übergriffigkeiten und Entmündigungsversuche geworden. Wenn für mich gedacht oder entschieden wird, fühle ich mich in meiner Autonomie verletzt.
Aber was hat das alles mit Unternehmensführung zu tun?
Institutionalisierte Entmündigung
Mir liegt viel daran, Möglichkeiten aufzuzeigen, die Unternehmen haben, um wirksamer und erfolgreicher zu führen. Die ganze Arbeit von intrinsify dreht sich ja genau darum – weißt Du sicherlich eh schon.
In diesem Artikel will ich aber eine andere Perspektive einnehmen: die des einzelnen. Denn nicht jeder kann die Strukturen in Unternehmen ändern. Und doch sind fast alle Menschen Strukturen in Unternehmen ausgesetzt.
Diese Strukturen führen in den meisten Unternehmen dazu, dass quasi an jeder Ecke eine Gelegenheit lauert, Deine Selbstverantwortung abzugeben und Dich entmündigen zu lassen. Die Einladung zur Entmündigung ist sozusagen institutionalisiert. Anlass bieten zahlreiche Praktiken und Management-Instrumente, die Dir das Denken abnehmen wollen.
Das wäre alles halb so wild, wäre da nicht die Asymmetrie, die Du mit Deinem Arbeitgeber unterhältst.
Kurzfristig asymmetrisch
Als asymmetrisch bezeichnen wir eine Beziehung, wenn eine Person gegenüber einer anderen Macht ausüben kann. Langfristig betrachtet sind Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen symmetrisch, denn beide Parteien entscheiden sich ja in der Regel auf einem freien Arbeitsmarkt freiwillig füreinander. Und beide Parteien können sich auch wieder gegeneinander entscheiden, wenn die Leistung einer der beiden Parteien die andere nicht mehr zufriedenstellt.
Du erwartest eine gewisse Vergütung, Arbeitsbedingungen, Aufgaben etc. und vergleichst diese mit Deinen Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt. Und der Arbeitgeber erwartet eine gewisse Arbeitsleistung, Qualifikation, Disziplin etc. und vergleicht diese ebenso mit den Alternativen auf dem Arbeitsmarkt. Das schafft langfristige Symmetrie.
Kurzfristig unterwirfst Du Dich jedoch den Weisungen Deines Arbeitgebers und willigst damit der Macht ein, die der Arbeitgeber innerhalb des Arbeitsverhältnisses ausüben kann. Kurzfristig ist eure Beziehung also asymmetrisch.
„Ist doch logisch“, denkst Du jetzt vielleicht. „Die Mitarbeiter können ja nicht machen, was sie wollen. Es braucht halt ein gewisses Maß an Macht in Unternehmen.“
Gut gemeinte Grenzüberschreitungen
Es stimmt natürlich: Macht hat für viele Vorgänge in Unternehmen eine wichtige Funktion für die Wertschöpfung. Sie reduziert Komplexität, schafft Ordnung, gewährleistet Prozessgüte etc.
Diesem Deal der Machtnutzung willigst Du als Arbeitnehmer sinnvollerweise ein, denn ohne diese Funktion der Macht, würde die Arbeit vielerorts leiden und so langfristig sogar Deinen Arbeitsplatz gefährden.
Doch heute greifen Organisationen zu zahlreichen Instrumenten, die mit der unmittelbaren Arbeit gar nichts zu tun haben. Sie dienen eben nicht dazu, einen Prozessstandard zu sichern oder die Befolgung einer Qualitätsregel zu gewährleisten.
Nein, viele Führungsinstrumente geben sich als Deine Helfer aus und versprechen Dir einen persönlichen Vorteil, während sie jedoch implizit Deine Autonomie unterhöhlen. Ganz subtil wohlgemerkt. Die New Work Bewegung hat einen ganzen Blumenstrauß solcher Infantilisierungsangebote im Gepäck und wirbt sogar in Form des Arbeitgebermarketings damit:
- Meditationskurse sollen Dich (neudeutsch) „nudgen“, mehr in Dich zu gehen und Achtsamkeit zu erleben. Als könntest Du nicht selbst für Deine innere Ausgeglichenheit sorgen.
- Purpose-Initiativen wollen Dir einen Sinn für das vermitteln, was Du tust. Als könntest Du nicht selbst erkennen, welchen ganz individuellen Sinn Deine Arbeit für Dich (und andere) hat.
- Aufrufe zum kollektiven Spenden oder Demonstrationsteilnahmen erpressen Dich moralisch, weil sie unterstellen, dass Du ihre Zwecke teilst und nur auf der Seite des vermeintlich Guten stehst, wenn Du mitmachst. Als würdest Du nicht selbst Initiative für Deine moralischen Überzeugungen ergreifen können.
- E-Mail Server werden um 21 Uhr abgeschaltet, um Dich vor der Überlastung zu schützen. Als könntest Du Dir selbst keine Grenzen setzen.
- Feel-Good-Management unterstellt, Deine Arbeit sei eine Last für Dich, die ausgeglichen werden müsste. Als würde Deine Arbeit Dich nicht erfüllen und Du nicht selbst für Deine innere Balance sorgen könntest.
- Mitarbeiterumfragen wollen Dir eine Stimme geben, als hättest Du vorher von Deiner nicht Gebrauch nehmen können.
Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Pseudo-Freiwilligkeit
Meist werden diese Instrumente als Einladung vom Unternehmen ausgesprochen. Freiwillige Angebote. Doch genau hier rächt sich die durch die Macht bedingte Asymmetrie eurer Beziehung. Denn Du wirst immer mitdenken müssen, welchen Eindruck eine Annahme oder Ablehnung dieser „Angebote“ bei Kollegen und Führungskräften machen könnte.
Eigentlich ist die Freiwilligkeit also eine Pseudo-Freiwilligkeit, was die Einladungen zu unmoralischen Angeboten macht. Schon die Möglichkeit, dass es Konsequenzen für Deine Karriere haben könnte, wie Du auf sie reagierst, verleiht ihnen ihre Übergriffigkeit.
Natürlich werden all diese Instrumente mit bester Absicht eingerichtet und jedes ist für sich genommen recht harmlos. Deswegen erscheint es Dir womöglich fast schon übertrieben absurd, dass ich vor Mitarbeiterumfragen oder Meditationskurse im Organisationskontext warne.
Deine Mündigkeit stirbt auch nicht von heute auf morgen. Du verlierst sie in kleinen Schritten, in einem schleichenden Prozess, einem unbemerkten obendrein. Langsam aber sicher untergräbt die Bevormundung Deine Mündigkeit und nagt an Deiner Autonomie. Denn jedes Mal, wenn jemand für uns denkt und für uns Verantwortung übernimmt, raubt er uns ein wenig Selbst-Denk-Kapazität. Immer mit bester Absicht, klar.
Die Folgen reichen weit über die Grenzen des Arbeitgebers hinaus. Viele Menschen trauen sich größere Veränderungen im Leben nicht mehr zu und brauchen andere, auf die sie die Verantwortung für ihre eigene Gesundheit, ihre Finanzen oder ihre Lebensplanung abwälzen können.
Ich will mir nicht anmaßen darüber zu urteilen, ob Du ganz persönlich ein hohes Maß an Autonomie anstrebst oder anstreben solltest. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass eine Gesellschaft davon profitiert, wenn möglichst viele Menschen selbst denken und es nicht zulassen, wenn für sie gedacht wird.
Die institutionalisierte Bevormundung macht uns still und heimlich schwächer und ängstlicher. Womöglich merken wir es gar nicht und würden uns nach wie vor für resilient und autonom halten, doch sind wir es wirklich?
Also, wie immunisierst Du Dich vor der Übergriffigkeit von Organisationen, ohne zum tölpelhaften Rebell zu werden, der nur um sich schlägt?
Mach’ Dein Bett
Die Entmündigung wird natürlich nicht nur durch unsere Arbeitgeber gefördert. Sie beginnt schon früher. Bei manchen ist die Entmündigung nach dem Elternhaus und der Schule bereits weit fortgeschritten. So weit, dass viele bei ihrem Arbeitgeber die Sicherheit suchen, die ihnen vorher geboten wurde.
Die Entmündigung lässt uns etwas Wichtiges vergessen: Jede meiner Handlungen beginnt mit einer Entscheidung. Dass viele dieser Entscheidungen jedoch gar nicht von mir getroffen werden, sondern mir durch Konventionen oder Institutionen abgenommen werden, ist eine machtvolle und befreiende Erkenntnis. Wenn ich will, liegt jede Entscheidung, für jede Handlung, in jeder Situation, jedes Mal aufs Neue bei mir. Ich muss nur bereit sein, den entsprechenden Preis zu bezahlen. Dafür brauche ich Vertrauen in mich selbst. Und genau hierbei hat mir Bill McRavens Bett-mach-Strategie geholfen.
Je häufiger ich mir selbst vorführe, dass ich mich gegen Widerstände durchsetzen, mich Herausforderungen stellen, mich überwinden, mich selbst aufrichten, dankend ablehnen und auf eigenen Füßen stehen kann, desto kleiner ist die Verführung, mich in die Hände von anderen zu begeben.
Auf die Frage eines jungen Mannes: „Was soll ich studieren?“, antwortete ein Bekannter von mir letztens: „Was Schweres“.
Da hast du mal wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Dauerhaft ist die Schnittstelle symetrisch.