Es ist schon etwas länger her, im Jahr 2001 verbrachte ich eine legendäre Nacht in der Max-Schmeling Halle in Berlin. Als wir vor der Halle ankamen, war ich überrascht, wie viele Menschen schon vor den Türen standen. Dabei mussten ja alle noch über eineinhalb Stunden bis zum Einlass warten. Mein guter Freund Jörg und ich warteten mit lässiger Vorfreude an einer Absperrung an der Hallenrückseite. Dort waren wir mit Kalle verabredet, dessen richtigen Namen ich bis heute nicht kenne, obwohl wir im Verlauf meiner „Karriere“ als Musiker bei unzähligen Konzerten zusammengearbeitet hatten. Kalle war Chef der Bühnencrew, ein etwas grobschlächtiger Typ, außerordentlich herzlich und er hatte mindestens sieben Kugelschreiber in seinem karierten Arbeitshemd. Er war also wichtig. Gut für uns, denn so konnte er uns ohne Ticket und fast drei Stunden vor Konzertbeginn in die Halle lassen.
Drinnen lief gerade der Soundcheck. Es klang noch sehr matschig, während wir durch die Katakomben vorbei an Kisten, weiteren Kisten, Kabeln und noch mehr Kisten in Richtung Zuschauerraum gingen.
Endlich standen wir vor der riesigen Bühne. Der Zuschauerraum war völlig leer, nur ein paar Ordner lungerten herum oder schoben Kisten hinter die Bühne. Diese war im Gegensatz zur Halle proppenvoll. Zu zwölft standen dort die Musiker des heutigen Mainacts Eagles und versuchten für den Abend den richtigen Klang zu formen.
Die Eagles hatte ich zuvor nie so richtig auf dem Schirm. Natürlich kannte ich ihre großen Hits, „Hotel California“, „Tequila Sunrise“ oder auch „Take it easy“. Aber ich tat ihre Songs immer als etwas seichten amerikanischen Country-Rock-Schlager ab. Nette Musik, mehr nicht – Fahrstuhlmusik – Wie „Die Flippers“, nur in Englisch. So dachte ich bis zu dem Abend. Jörg musste mich deshalb auch regelrecht zu dem Konzert überreden.
Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll
Ich bin ein Kind der 80er, ich hatte schon richtig große Musikproduktionen gesehen, wie Michael Jackson, Prince, Tina Turner, Genesis oder Paul McCartney. Nun stand ich aber vor der Bühne der Eagles und staunte dennoch Bauklötze: Überall Gitarren. Rechts der Bühne: Gitarren. Links der Bühne: Gitarren. Insgesamt 112 Gitarrenhälse zählte ich. Ja klar, die Eagles brauchen für die verschiedenen Songs akustische Gitarren, E-Gitarren oder Bassgitarren. Aber warum 112, wenn vielleicht auch 20 gereicht hätten? Was für eine Materialschlacht.
Der Soundcheck war inzwischen vorbei. Es ging locker zu. Die Herren flachsten. Und trollten nach und nach von der Bühne in den Backstagebereich, zu dem Jörg und ich nun leider keinen Zugang mehr bekamen. Wir schauten uns stattdessen in der noch immer leeren Halle um, und suchten uns ein bequemes Plätzchen zum Warten. Konzertbeginn war ja erst in zwei Stunden.
Nur fünf Minuten später ertönte plötzlich wieder Gesang. Recht leise. Woher kam das? Aus der Konserve jedenfalls nicht. Wir gingen nochmal nach vorne an den Bühnenrand. Es kam von links. Dort, wo rund die Hälfte der 112 Gitarren standen. Hätten wir doch besser gucken können, aber die großen Lautsprechertürme verdeckten das meiste. Wir fanden eine Lücke und sahen eine ganz kleine Nebenbühne. Na ja, eigentlich war es gar keine Bühne. Die Techniker hatten lediglich einen leicht erhöhten Bereich von Kisten freigeräumt. Darauf standen im Kreis die vier Eagles und drei weitere Mitglieder der Band zusammen. Nur mit Begleitung einer unverstärkten Akustikgitarre und völlig ohne Mikrofone sangen sie „Seven Bridges Road“, eine alte Country-Nummer, mit der sie später auch das Konzert eröffneten. Zu dem damaligen Zeitpunkt kannte ich den Song gar nicht und war geflasht von dem siebenstimmigen Gesang. Was für ein Sound, das soll eine Rockband sein? Die Flippers klingen anders. Ich konnte es noch nicht ganz einordnen, was passierte da gerade?
Direkt nach dem ersten Song sangen sie „Take It to the Limit“, wieder siebenstimmig. Ich glaubte nicht, was ich sah und hörte. Wie klar das klang. Wunderbare Akkordbewegungen, die sich erst schmerzend aneinander rieben und sich kurz danach harmonisch auflösten. Ganz großes Tennis…
Direkt nach dem zweiten Refrain brach Don Henley – Leadsänger, Schlagzeuger und einer der Gründer der Band – ab. Er sprach etwas mit seinem Buddy Glen Frey, was ich aus der Ferne nicht verstand. Er zeigte streng auf einen der beiden Keyboarder und auf seinen Bandkollegen Joe Walsh, gestikulierte wild und zählte neu ein. Nochmal der Refrain.
So langsam dämmerte mir, was hier vorging: Sie probten. Vermutlich lief beim letzten Konzert einiges schief und sie wollten die Gesänge heute wieder besser machen, dachte ich. So was ist bei vielen professionellen Musikproduktionen üblich. „Säuberungsprobe“ wird das genannt. Eine Strafe, wer dorthin zitiert wird.
Die Runde der sieben machte unbeirrt weiter, Song für Song. Meistens unterbrach niemand. Warum auch, der Sound klang perfekt.
Ich habe nicht gezählt, wie viele Songs sie sangen. Aber sie standen dort eine geschlagene Stunde lang. Auf einer räudigen und viel zu heißen Probebühne im Juli, am dunklen Rand der Max-Schmeling-Halle in Berlin, zwischen Gitarrenhälsen, Kisten und ein paar Plastikflaschen Wasser. Wo ich auch hinsah, nirgends konnte ich Sex oder Drugs und erst recht keinen Rock ’n’ Roll erkennen. Das war harte, hoch konzentrierte Arbeit.
Später erzählte uns Kalle, der noch auf ein Bierchen zu uns kam, dass dieses Ritual jeden Abend auf die exakt gleiche Art und Weise abläuft. Wie bitte? Das konnte ich kaum glauben. Das sind doch Profis. Seit 1972 stehen sie gemeinsam auf der Bühne. Sie spielten damals alleine auf der Europa-Tour mehr als 60 Konzerte, nutzten 60 Soundchecks, um vier oder fünf Nummern in voller Kapelle aufzufrischen und sangen dann gemeinsam während der Show knapp 30 Songs vor Publikum. Und genau diese Truppe stellt sich dann noch zusätzlich vor Einlass des Publikums zum Proben der Satzgesänge neben die Bühne? Eine Stunde lang? Jeden Abend?
Ja, genau. Das tun sie. Nur, warum?
FUTURE LEADERSHIP
Löse Führungsprobleme, die andere noch nicht mal verstehen.
Take it to the Limit
Ich erkläre es mir so: Das Musikbusiness ist erbarmungslos. Der Wettbewerb um Aufmerksamkeit ist gigantisch, vielleicht nur mit dem Spitzensport zu vergleichen. Es sind oft nur winzige Kleinigkeiten, die den Unterschied zwischen Weltstar und No-Name ausmachen. Alles muss stimmen und zusammenpassen. In der Rockmusik sind das Zutaten wie Songwriting, Texte, Sound, Bühnenshow, auch Marketing, Timing und viel Zufall. Und es muss immer etwas Besonderes dabei sein, ein klares Unterscheidungsmerkmal, am besten gleich mehrere.
Die Eagles gründeten sich 1971 als konventionelle Country-Rockband und bekamen nur durch gute Beziehungen einen Plattenvertrag. Sie wollten den damals hochdekorierten Toningenieur Glyn Johns als ihren Produzenten für die erste Platte gewinnen. Dieser hielt die Musik allerdings für zu dröge und wollte schon ablehnen, als er die Band in einer Probenpause eine fünfstimmige A-Capella Version von Seven Bridges Road singen hörte. Eben jenen Song, den ich bei der Satzprobe 30 Jahre später erstmals hören sollte. „That’s it“. Der Sound war gefunden. Glyn Johns schlug ein. Die charakterstarke Leadstimme von Don Henley, gepaart mit den aufwändigen Gesangssätzen wurden zur DNA der Eagles. Sie waren das Besondere an der sonst keinesfalls ausgefallenen Country-Rock-Musik mit vielen Gitarren und simplen Schlagzeug-Grooves.
Na klar, und deshalb standen auch 2001 alle Sänger der Band zusammen und probten. Sie fokussierten sich damit auf eine vermeintliche Kleinigkeit, die gleichsam essenzieller Bestandteil ihres Welterfolgs ist. Ohne diese Perfektion hätte sie diese großen musikalischen Fußstapfen in der amerikanischen Kulturgeschichte vermutlich nie austreten können. Denn ein Welterfolg lässt sich nicht herstellen, nicht erzwingen, nicht mit Rezepten backen, höchstens als Traum ausmalen. Welterfolg ist etwas Emergentes, darüber schrieb ich hier an gleicher Stelle schon einmal. Welterfolg lässt sich zwar als Ergebnis im Rückspiegel, aber eben nicht als Plan durch die Windschutzscheibe beobachten. Welterfolg kann niemand vom Anfang her nach Bauplan synthetisch zusammensetzen. Was die Eagles aber tun konnten, war Songs schreiben, arrangieren und üben. Bis zur Perfektion. Und daraus einen Welterfolg entstehen lassen. Welch magische Emergenz.
Dass die Eagles taten, was sie taten, war also kein Zufall. Damit das Große möglich wurde, mussten Bedingungen für die Möglichkeit im Kleinen geschaffen werden. Und das taten sie: Sie arbeiteten am Satzgesang, nicht am Welterfolg.
Don Henley sagte 1998 in seiner Dankesrede anlässlich der Aufnahme der Eagles in die Rock and Roll Hall of Fame: „Wenn ein Kind erstmals eine Gitarre oder Trommelstöcke in die Hand nimmt, dann nicht vor allem, um berühmt zu werden, sondern um irgendwo dazuzugehören, um akzeptiert und verstanden zu werden. Ich sehe den Preis deshalb nicht dafür, dass wir berühmt sind, sondern weil wir unsere Arbeit machen.“
Ich liebe diesen Satz!
Nun könntet ihr und ich es uns leicht machen und den Welterfolg der Eagles einfach personifizieren. Wir könnten es schlicht dabei belassen, den tollen Abend damals in Berlin und die vielen Preise auf die Genialität von Don Henley und Glenn Frey zu schieben. Das wäre bequem. Und denkfaul. Denn dieser Move würde uns ungefähr so weit bringen, wie uns statt zum Workout lieber mit einer Packung Chips aufs Sofa zu fläzen und uns einzureden, der große sportliche Durchbruch stünde ganz kurz bevor. Also keine Müdigkeit vortäuschen und weiter: Was hat Führung jetzt damit zu tun?
Führung hat das alles erst möglich gemacht. Damit sich Gänsehaut bei den Zuschauern entwickeln konnte, war vieles erforderlich und Führung hat dafür gesorgt. Das gute Licht, der Ton, die Komposition und die Perfektion im Detail. Das entsteht nicht durch die simple Addition von Fähigkeiten, das entsteht nur durch ein komplexes Zusammenspiel, durch gelungene Kooperation und genau diese ermöglicht Führung. Führung macht Kooperation wahrscheinlicher. Erst Führung verwandelt die Fähigkeiten von Individuen in Gänsehaut von Menschenmassen.
Und so entsteht aus täglichen Gesangsproben ein Markenzeichen. So entsteht aus Versessenheit zur musikalischen Perfektion eine der erfolgreichsten Rockbands der Geschichte. Und weiter: So entsteht durch den Fokus auf Wertschöpfung ein Welterfolg. So entsteht durch Exzellenz in Fertigung und Montage eine international erfolgreiche Maschinenbaufirma. So entsteht durch penible Sorgfalt in jedem Detail eine preisgekrönte Markenagentur. So entsteht aus Akribie in Vertrieb und Service eine globale Schraubenfirma.
Ich mache es zum Abschluss mal besonders pathetisch und ambitioniert: So entsteht aus Willen zur Leistung Fortschritt, Wohlstand und Frieden.