Ich habe euch vor rund drei Jahren an dieser Stelle die Geschichte von der „Grünen Truppe“ bei BMW erzählt. Ein Mythos der Vergangenheit zwar, wie ich vermute, der aber nur zu gut die absurden Facetten von Großorganisationen illustriert.
Diese „Grüne Truppe“ bei BMW entschied und exekutierte angeblich die Ausstattung der Büroarbeitsplätze mit Grünpflanzen. Ja, genau: Grünpflanzen.
Auf den zweiten Blick ist das gar nicht mehr soo abwegig: Fast als sei es ein Naturgesetz werden bei Konzernen dieser Größenordnung z.B. die Mitarbeiterparkplätze nach Position des Fahrers in der Firmenhierarchie vergeben (selbstredend gibt es auch weitere Kriterien, aber das macht die Anekdote hier zu kompliziert). Außerdem wurde (oder wird) bei BMW die Platzierung des Mitarbeiterschreibtisches anhand der Hierarchie festgelegt. Je mehr Fenstersegmente zum Schreibtisch gehören, desto mehr formale Macht signalisiert es. Auch der Ausblick des Schreibtisches ist eine Frage der hierarchischen Position. Wer tiefer im pyramidalen Organigramm steht, der bekommt einen Arbeitsplatz mit Ausblick nach Norden zugeteilt. Wer es weiter nach oben schafft, kann mit einem Platz liebäugeln, der den Blick in den schönen Süden freigibt.
So weit, so gut. Aber die Machtsignalisierung mittels Grünpflanzenausstattung eines Arbeitsplatzes war damals für mich neu. Dennoch folgerichtig in der Logik von Organisationen. Wer befördert wird, darf darauf spekulieren, Grünpflanzen an seinen Schreibtisch gestellt zu bekommen. Und wenn es weiter nach oben geht, werden diese ausgetauscht zugunsten von höherwertigen Pflanzen. Fragt mich bitte nicht, wie die Rangliste der Pflanzensorten aussieht, ich habe wahrlich keinen grünen Daumen und kenne mich mit den Namen nicht aus.
Der gute Freund von mir, der diese Geschichte als ehemaliger BMW-Manager bei einem gemeinsamen Abendessen kredenzte, bekam zum Tag seiner Beförderung zum Hauptabteilungsleiter eine Monstera an den Schreibtisch gestellt (das soll wohl was besonders sein). Und weil sich mein Freund so gar nichts aus Pflanzen machte und wohl auch, weil er die Kultur ein wenig provozieren wollte, trug er das Bäumchen stante pede zwei Etagen tiefer zu einem ehemaligen Kollegen von ihm, der es nie so recht in den Hierarchie-Aufzug geschafft hatte und noch immer auf einer Sachbearbeiterstelle festhing. Als dieser die Monstera sah, soll er Tränen der Rührung in den Augen gehabt haben, zeugte die Pflanze doch von hohem Status in der Firma.
Komprimierte Kommunikation
Derartige Anekdoten – ob wahr oder nicht – haben meist hohen Unterhaltungswert. Erzählt ihr sie auf einer Party, sind euch die Lacher gewiss. Schließlich erlebt fast jeder ähnlich groteske Geschichten und der gemeinsame Spott entlastet und macht einfach Spaß.
Auf der anderen Seite üben diese Phänomene auf mich eine große Faszination aus. Denn sie sind ein anschauliches Beispiel dafür, was Unternehmenskultur ist: ein stabiles Ritual, auf das sich alle verlassen können. Jeder Mitarbeiter weiß nach nur wenigen Tagen Betriebszugehörigkeit, welche Bedeutung es hat. Niemand muss darüber ausufernd sprechen. Es ist keine ausgeprägte Kommunikation mehr darüber erforderlich, wer welche Position im Unternehmen hat. Das Ritual ist die Kommunikation selbst, in komprimierter Form. Oder anders ausgedrückt: In jedem Ritual ist so viel Bedeutung gespeichert, dass es Kommunikation extrem vereinfacht und beschleunigt.
Das ist wie bei einem ganz normalen Handschlag zur Begrüßung. Ein kleines Ritual, das in Verbindung mit leichtem Schütteln, einem Blick in die Augen des Gegenübers und einem freundlichen „Hallo“ in zwei Sekunden über die Bühne geht. Was ihr sonst alles aussprechen müsstet, um die Geste allein mit Worten zu übersetzen? Alles nicht nötig: Der Handschlag ist extrem verdichtete Kommunikation.
Ihr merkt, diese Betrachtungsweise macht eine andere Perspektive auf: Welchen Nutzen haben solche Rituale, welche Funktion erbringt die Zurschaustellung von formal hierarchischer Position?
In militärischen Kreisen ist dieses Ritual Jahrhunderte alt. Auch in der zivilen Luftfahrt wisst ihr sofort: Kapitän ist der mit den vier Streifen auf der Schulterklappe. Hast Du nur drei „Pommes“ auf der Schulter, bist Du Co-Pilot. Und das erleichtert vieles, insbesondere in brenzligen Situationen. In der Notsituationen muss niemand mehr Arbeitskreise einberufen, um zu klären, wer die finale Entscheidung trifft. Diese Kommunikation steckt in den Pommes schon drin. Und Geschwindigkeit kann in solchen Situationen Leben retten.
Nun gibt es in Wirtschaftsunternehmen zwar nur äußerst selten Entscheidungssituationen, bei denen es auf Sekunden ankommt. Die Markierung von Macht ist gleichsam wichtig, gerade wenn Macht als Entscheidungsprämisse eine große Rolle spielt. Übersetzt heißt das: Jede Organisation, die sich auf stabile formale Macht verlassen möchte, ist darauf angewiesen, sich selbst stets vorzuführen, wer über formale Macht verfügt und wer nicht. Auf welche Weise dies geschieht, ist zweitrangig und der Fantasie der Unternehmen überlassen. Das können eben Mitarbeiterparkplätze, Grünpflanzen oder die „On-Air-Time“ sein.
On-Air-Time
Diesen Begriff kannte ich offen gestanden in diesem Zusammenhang noch gar nicht, aber er hat etwas sehr Poetisches, wie ich finde.
Eine Beratungsklientin erzählte mir von diesem Phänomen im Kontext ihres Unternehmens, einem Industriekonzern. Sie beobachtet seit Jahren den Versuch von Menschen in der Organisation, Zeit mit dem Vorstand zu ergattern, sogenannte „On-Air-Time“.
Das Kulturmuster lautet: Wenn ich als Mitarbeiter häufig Zeit mit dem Vorstand verbringe, wirft das ein positives Licht auf mich. Die Intensität des zugeschriebenen Ansehens hängt natürlich davon ab, ob es Zeit mit nur einem normalen Vorstandsmitglied, dem Vorstandsvorsitzenden (VV) oder gar dem gesamten Vorstandsgremium ist. Und der Grad der Informalität ist zudem wichtig: Wenn mir vom VV das „Du“ angeboten wird, dann bin ich jemand. Blöd nur, wenn ich selber einen Chef habe, der sich mit dem VV noch siezt. Dann kriegt das ohnehin komplexe Beziehungsgeflecht geradezu bizarre Züge.
Da „On-Air-Time“ als ein Maß für Ansehen in diesem Unternehmen gilt, fühlen sich Mitarbeiter dazu hingezogen, diese Zeit zu erhöhen, auch mit dem Wissen, dass dieses Verhalten etwas Groteskes an sich hat. Zum Beispiel versucht eine Mitarbeiterin, sich auch ohne Einladung in ein dreistündiges Meeting mit dem Vertriebsvorstand reinzumogeln. In einem anderen Fall delegiert aus hanebüchenen Gründen ein Manager die Entscheidung nach oben, nur um später in der Kantine von seinem „wichtigen“ Vieraugengespräch mit dem Vorstandsvorsitzenden zu erzählen.
Und andersherum machen die Bemühungen um gemeinsame Zeit auch deutlich, wer über Macht verfügt. Wenn z. B. im groß anberaumten Meeting plötzlich der VV nicht auftaucht, weil er einem anderen Thema spontan mehr Priorität eingeräumt hat, dann kann es durchaus sein, dass sich die Reihen im Meetingraum recht schnell lichten oder das Meeting nur noch der Etikette wegen ohne große Entscheidungen „über die Bühne“ gebracht wird.
Ich denke, es gibt zwei Möglichkeiten, wie ihr mit solchen Beobachtungen umgehen könnt. Zum einen könnt ihr euch über den vermeintlichen Unsinn lustig machen, die Anekdote ausschmücken, übertreiben, karikieren und bei jeder passenden Gelegenheit erzählen. Oder ihr nehmt sie als Start einer kleinen Detektiv-Suche: Was genau könnte der Nutzen des Musters sein? Wie profitiert das Unternehmen davon? Was genau ist der Sinn im Unsinn?
Welchen Weg ich gehe, fragt ihr?
Ich mache beides!