Seit einigen Jahren gehört es zum guten Ton, sich zu einer Mentalität zu bekennen, die für den langsamen Einstellungs- und den schnellen Entlassungsprozess steht: Hire Slow, Fire Fast heißt es in Management Magazinen und Silicon Valley Kreisen. Angeblich gäben sich Unternehmen bei der Einstellung zu wenig Mühe und zögerten dann bei schlechter Leistung zu lange mit dem Rausschmiss. Das führe systematisch dazu, dass „falsche“ Mitarbeiter eingestellt und dann zu lange erduldet würden. Aber ist Hire Slow, Fire fast wirklich ein gutes Prinzip?
Adverse Selektion
Hier unten an der Sunshine Coast*, in Brighton, da gibt es ein Unternehmen, das seine Mitarbeiter nach dem Zufallsprinzip auswählt. Die Bewerbungen sind wie Lose in einer Lostrommel.
Total Gaga? Oder irgendwie genial?
Ich sage: Genial für seine Branche der Systemgastronomie.
Ich habe mich nie näher mit dem Unternehmen beschäftigt. Aber ein guter Freund von mir kennt den Gründer und der ist angeblich davon überzeugt, dass er mit all den Tests der Welt am Ende eh nicht herausfindet, wie jemand bei der Arbeit letztlich Wirksamkeit entfaltet und sich verhält.
Also beginnt er mit den potenziellen neuen Kollegen (aka Losen) zu arbeiten, stellt sie bei Zufriedenheit irgendwann fest ein und fragt bei späterem Leistungsabfall, wo die Rahmenbedingungen versagt haben.
Recht hat er. Denn Verhalten ist vielmehr ein Ausdruck des konkreten Kontextes als der individuellen Persönlichkeit. Erst die Tätigkeit, die Kollegen, die Management-Instrumente, die Kultur, die Schnittstellen usw. spannen gemeinsam ein Kraftfeld auf, in dem die Mitteilungen der Mitarbeiter eine kommunikative Bedeutung erfahren.
Die Erhebungsversuche der heutigen Rekrutierungsmaschinerie unterstellen aber, dass Mitarbeiter anhand einer objektiv ermittelbaren Spezifikation verglichen werden könnten.
Die Überzeugung ist, dass Assessment Center, standardisierte Fragen, Ergebnisse aus Fallstudien, ausführliche Gespräche, ein Abgleich des „Cultural Fit“ etc. eine relativ eindeutige Auskunft über die spätere Verwendbarkeit der jeweiligen Kandidaten zuließen. So kommt das Hire Slow Prinzip zustande.
Dabei unterschlagen diese Einstellungsverfahren einen wichtigen Unterschied: Die Kompetenz eines Menschen besteht aus seinem Wissen und seinem Können.
Das Wissen kann in der Regel objektiv erhoben werden. Ob und wie gut jemand Spanisch spricht, lässt sich überprüfen.
Das Können ist jedoch kontextsensibel und kann deshalb nie ohne den Kontext beobachtet werden, in dem es gebraucht wird. So habe ich viele Führungstalente kennengelernt, denen in dem einen Kontext viel informelles Ansehen spendiert wurde, während sie in einem anderen Kontext keinen Anschluss an das Team fanden.
Aufgrund dieses Irrtums, verkommen die meisten Einstellungsverfahren zu sich selbst dienenden Nebelkerzen. Der in sie gesteckte Aufwand und die Fülle der gewonnenen Informationen legimitiert ihre Entscheidungen und täuscht so über die Tatsache hinweg, dass man die ganze Zeit versucht etwas zu bewerten, was sich ohne den konkreten Kontext gar nicht bewerten lässt – das Können nämlich.
Zudem filtern diese Verfahren Bewerber aus, die zwar zum Job aber nicht zum Raster passen.
WIE SICH MENSCHEN ORGANISIEREN, WENN IHNEN KEINER SAGT, WAS SIE TUN SOLLEN
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Drum prüfe, wer sich (ewig) bindet
Der Blick durch die systemtheoretische Linse lädt zu einem anderen Denken über Recruiting und Personalmanagement ein. Und er verführt mich zu der Empfehlung: Work Early, Hire Late, Fire Slow.
Work Early
Wenn sich Können erst im Kontext des konkreten Arbeitsumfeldes zeigt, dann muss die erste Priorität sein, potenzielle Mitarbeiter genau diesem auszusetzen. Wir suchen bei intrinsify immer nach Gelegenheiten, wie wir „mal zusammenarbeiten“ können.
Der Sachzwang setzt dieser Absicht manchmal Grenzen. Nicht immer kann ein Kandidat sich zwei Tage Urlaub nehmen oder sogar länger Probearbeiten durchführen. Nicht immer erlaubt der gegenwärtige Arbeitgeber es, parallel an einem kleinen Projekt mitzuarbeiten, um sich unter Realbedingungen zu beschnuppern. Doch irgendeine Möglichkeit finden wir meistens.
Nichts ersetzt den „Live Test“!
Hire Late
Dieser Abschnitt müsste eigentlich in Klammern stehen, denn in aller Regel sind ihm starke Grenzen gesetzt. Und trotzdem erwähne ich ihn.
Was für die Eheschließung gilt, gilt auch für den Arbeitsvertrag. Wer jahrelang zusammengewohnt und -gelebt hat, Erlebnisse teilt – insbesondere belastende – der kann das Risiko des JA-Wortes beträchtlich reduzieren.
Sowohl für den Arbeitgeber als auch für den Arbeitnehmer fällt der vorzeitige Abschied deutlich leichter, wenn die Formalitäten sich im Rahmen halten. Deshalb empfehle ich, so lange wie möglich zu warten, bis man sich gesetzlich bindet.
Doch nicht um den Kandidaten in der Zwischenzeit durch ein Einstellungsverfahren zu schleusen, sondern um weiterhin miteinander zu arbeiten. Eben um herauszufinden, ob man wirklich zueinander passt.
Wie gesagt, dem Hire Late Prinzip stellt sich der Sachzwang noch sperriger in den Weg als dem Work Early Prinzip. In manchen Branchen binden die Rahmenverträge. In anderen wäre es schlicht zu unkonventionell, das juristisch Bindende hinauszuzögern.
Doch wo immer es möglich ist, z.B. indem auf Rechnung gearbeitet oder zumindest die Probezeit als ernstgemeinte Option verstanden wird, solltet ihr es beiden Seiten einfach machen, die Unsicherheitsphase abzuwarten, bis ihr Nägel mit Köpfen macht.
Arbeitsverträge, so wie jeder Vertrag, sind für den Streitfall. Deshalb sollten sie idealerweise erst geschlossen werden, wenn beide Seiten selbstbewusst davon ausgehen, dass es nicht zum Streit kommen wird.
So verstanden führt die Entschlossenheit zum Vertrag, anstatt dass der Vertrag fehlende Entschlossenheit verdeckt. Oder anders: Nicht der Vertrag sollte die Beziehung prägen, sondern die Beziehung den Vertrag.
Also Erstens, so schnell es geht gemeinsam arbeiten. Zweitens, so spät wie möglich rechtlich binden. Und Drittens…
Fire Slow
Die Überzeugung, man müsse sich schnell von Low Performern trennen, berücksichtigt in den allerseltensten Fällen die Tatsache, dass Low Performance nahezu immer ein systemisches Problem ist. Stattdessen wird das Problem jedoch personifiziert.
Dieser Irrtum ist so tief verankert, dass er sich nicht abnutzt. Obwohl die Enttäuschung sich auch nach dem Austausch einzelner Mitarbeiter nicht auflöst, müssen sie weiterhin als Sündenbock herhalten, anstatt sie als Spiegelbild des Kontextes zu verstehen, dem sie ausgesetzt sind.
Das Fire Slow Prinzip geht vom Gegenteil aus: Der Kontext muss repariert werden, nicht die Mitarbeiter. Konkret empfehle ich deshalb immer zwei Dinge:
- Versuche herauszufinden, wie sich das Verhalten des Mitarbeiters mit dem Kontext – also mit Kulturmustern, Managementinstrumenten, Organisationsstrukturen etc. – erklären lässt, anstatt mit der fehlenden Mitarbeiterkompetenz.
- Frage Dich, wie Du diesen Kontext ändern kannst. Wenn sich Vorurteile bereits verfestigt haben, bleibt manchmal nur der (vorübergehende) Einsatz in einem anderen Kontext. Dort können dann neue, meist positivere Vorurteile entstehen.
Ich habe durch von dieser Sichtweise inspirierte Managementeingriffe schon zahlreiche Mitarbeiter aufblühen sehen, die bereits abgeschrieben waren.
Fire Slow beschützt Manager vor der Denkfalle der Personifizierung und damit vor unnötigen Fluktuationsaufwänden.
Außerdem hat dieses Prinzip eine disziplinierende Wirkung. Es erinnert Manager daran, ihrer eigentlichen Verantwortung gerecht zu werden: Rahmenbedingungen schaffen, in denen Menschen ihr volles Potenzial entfalten können.
Wer schnell entlässt, beraubt sich selbst der tieferen Erkenntnis und begibt sich in eine Abwärtsspirale der Mitarbeiteranklage, was die oft beklagte Enthaftungs- und Schuldzuweisungskultur nährt.
Also: Früh gemeinsam arbeiten, spät bindende Verpflichtungen eingehen und lange nach Systemursachen suchen, wenn Unzufriedenheit einsetzt.
Mhhh soweit verstanden. Ein paar Fragen…
Sollte es bei einem echten Könner nicht auch wahrscheinlicher sein, dass er den Kontext ändern kann? Wenn wir schlecht im Marketing sind erwarte ich ja von einem echten Marketing Könner, dass er Ideen hat und der Organisation „sagt, wo es lang zu gehen hat“ (statt sich einfach nur einzufügen, dass würde den Könner ja vermutlich auch total frustrieren. Er wird ja auch merken, dass das, was die Organisation da im Marketing macht, nicht gut ist.).
Und was macht man denn nun, wenn der Mitarbeiter halt tatsächlich nicht kompetent ist? Wissen und Können fehlt und man kann es sich unternehmerisch nicht erlauben, dass der Mitarbeiter sich das jetzt eben mal selbst aneignet und so lange übt, bis er es kann. Häufig stellt man ja neue Mitarbeiter ein, weil man eben _jetzt_ Ergebnisse braucht.
Zwei Aspekte:
1) Könnertum ist (wie Führung) die Kombination aus Anlage und Kontext. D.h. ein Talent kann in einem Kontext ein Könner sein, im anderen nicht. Das ist eng verwandt mit Punkt 2…
2) Ideen kann jeder äußern. Ob sie kommunikativ verfangen, also zu relevanter Kommunikation werden, hängt von der strukturellen Kopplung zwischen System (Unternehmen) und Psyche (Mitarbeiter) ab. Salopp: Der Ruf bzw. wie man im Team gesehen wird, bestimmt die Möglichkeit, auf das Team einzuwirken. Es kann also nicht jeder einfach so was am Kontext ändern, auch wenn er ein Talent hat.
3) Wenn das nötige Wissen fehlt und man sich sicher ist, dass auch bei Kontextänderung kein Können sichtbar werden würde, dann entlassen bzw. andere Verwendung finden.