»Auf ein Glas mit Lars«

Magische Emergenz

Wann Trivialisierung fatal wird
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Lars Vollmer
Warum bessere Manager gute Unterscheidungen nutzen
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Ich bin ein Stadtmensch. Ich liebe „meine“ Stadt Barcelona, die hervorragenden Restaurants, die Streetfood-Festivals, die Jazz-Konzerte, die architektonischen Finessen von Antoni Gaudí bis Ricardo Bofill, die Vielfalt an Menschen, die mir hier jeden Tag begegnen und den guten Kaffee, den ich gerade im Moment am olympischen Hafen trinke.

Und gleichzeitig genieße ich ab und an den Ausflug in die Natur. Dort haut mir Flora und Fauna die irrwitzigsten Dinge um die Ohren. Es geht schon an einem Gebirgsfluss im Frühling los. Wie kann es sein, dass Wasser bei elf Grad Celsius flüssig ist, obwohl die Bestandteile von Wasser, also Wasserstoff und Sauerstoff bei gleicher Temperatur gasförmig sind?

Oder ich schaue gen Himmel und bestaune einen dieser faszinierenden Vogelschwärme, die mal in Trauben, mal in V-Form durch die Lüfte fliegen und dabei die unterschiedlichsten Bilder in den Himmel zeichnen. Kraniche tun das zum Beispiel. Oder Weißstörche. Und besonders spektakulär wirkt es bei Staren. Das faszinierende daran ist, dass kein Vogel das Kommando zum Formationsflug raus piept. Der Schwarm entsteht irgendwie anders.

Beim Skifahren beobachte ich ab und an Skifahrer eine Buckelpiste runterfahren, deren hochindividuelle Buckelausprägung sich im Laufe des Tages formt, auch wenn dies weder Absicht des Schnees, des Berges, des Liftbetreibers, noch der Skifahrer war.

Das abstrakte Prinzip hinter all diesen Phänomenen wird bekanntlich als Emergenz bezeichnet. Aus vielen Bestandteilen entsteht ein Ergebnis, das mit der Kenntnis der Einzelteile alleine nicht zu erklären ist. Ihr könnt den berühmten Satz von Aristoteles „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“ nämlich auch umdrehen: Es gibt Eigenschaften eines großen Ganzen, die ihr trotz vollständigen Wissens über die Eigenschaften der Systembestandteile und deren Verhalten in anderen Zusammenhängen nicht auf diese reduzieren könnt.

Ein Hubschrauber beispielsweise besteht aus abertausenden von Einzelteilen. Keines dieser Einzelteile kann sich alleine in der Luft halten, der Hubschrauber als Ganzes aber schon. Zumindest, bis der Sprit alle ist.

Oder ein anderes Beispiel: Ein Buch wie „Der Alchemist“ des brasilianischen Autors Paulo Coelho mit über 85 Millionen verkauften Kopien besteht aus abertausenden Wörtern und Buchstaben – ihr seht mir bitte nach, dass ich sie nicht gezählt habe. Aber keines dieser Wörter oder gar Buchstaben kann alleinstehend bei euch eine sonderliche Emotion oder Erkenntnis auslösen. Das ganze Werk mit seinen 54 Kapiteln voller Wörter und Buchstaben schafft es aber womöglich trotzdem, in euch eine tiefe Bindung zu dem Schafshirten Santiago auszulösen und die Sehnsucht nach dem Sinn eures Lebens zu beflügeln. Welch magische Emergenz.

Die kontingente Emergenz

Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Hubschrauber und Literatur. Für die Maschine gibt es eine technische Konstruktion, jedes Teil gehört ganz genau an einen dafür vorgesehenen Platz. Die Emergenz entsteht quasi nach Bauplan. Es ist überhaupt kein Wunder, dass nach vielen tausend Arbeitsstunden ein Objekt mit der Eigenschaft ›flugfähig‹ herauskommt, es ist vielmehr Ausdruck präziser technischer Planung und Ausführung. Ich will diese vergleichsweise triviale Form von Emergenz hier mal kausale Emergenz nennen und im Folgenden weitestgehend ignorieren.

Denn weitaus relevanter für meine Argumentation ist das Beispiel vom Alchemisten und damit die andere Form der Emergenz. Ich nenne sie die kontingente Emergenz. Und sie ist alles andere als trivial. Denn weder die emotionale Wirkung der Lektüre auf ihre Leser noch der wirtschaftliche Erfolg des Buches und auch nicht die immense Bedeutung des Buches für die brasilianische Kultur im Allgemeinen lässt sich auf die hunderttausenden Buchstaben und Satzzeichen oder deren Verwendung in anderen Zusammenhängen reduzieren.

Hier besteht ein kleines Potential für Missverständnisse. Das Buch selber, also das physische Objekt, das im Wesentlichen aus Papier, Leim und Druckerschwärze besteht, hat überhaupt nichts Magisches. Es ist wie der Hubschrauber: technisch planbar und vollständig kausal beschreibbar.
Anders das literarische Werk: Wer versucht, den Erfolg von Paulo Coelho allein auf die Beschaffenheit von Tinte oder der verwendeten Typographie zu reduzieren, macht sich zurecht lächerlich.

Einen Bestseller im Buchmarkt könnt ihr nicht planen, nur wünschen. Ein Buch wird nur zum Bestseller, wenn es Anklang bei Lesern und dem Feuilleton erzeugt. Und genau dieses emergente Phänomen der Resonanz liegt nicht in der Hand des Autors. Ihr könnt als Autor keine Resonanz machen. Und damit seid ihr in guter Gesellschaft, denn auch Lektor oder Verlegerin können dies nicht. Ebenso wenig wie Drucker oder Buchhändlerin.

Schreiben macht vermutlich mehr als ein Drittel der Zeit meines beruflichen Schaffens aus. Und es dient zuallererst mir selber, als Denkwerkzeug für die sprachliche und argumentative Schärfung meiner Thesen. Und natürlich sollen die Texte auch meinen Lesern, also euch, Freude bereiten und bestenfalls inspirierend und gerne auch mal an euren Überzeugungen rüttelnd, irritierend oder gar empörend wirken.

Wenn all dies nicht wäre, wäre Schreiben für mich eine wohl eher frustrierende Angelegenheit. Denn allein in Deutschland erscheinen jährlich mehr als einhunderttausend neue Büchern aller Genres. Ob meines zu denen gehört, die ausreichend Interesse auslösen, kann mir vorher niemand mit Sicherheit zusagen.

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Das Gehirn des Fußballtrainers

Und diese Unwissenheit teile ich mit Jeff Bezos, mit dem mich sonst – außer noch der gleichen Frisur – nichts Weiteres verbindet: Der Gründer von Amazon hatte bekanntlich Anfang der neunziger Jahre die recht wagemutige Idee, Bücher über das Internet zu verkaufen. Dass Amazon heute mit über 500 Mrd. US-Dollar Jahresumsatz zu den weltweit größten Wirtschaftsorganisationen gehört, ändert nichts daran, dass auch dieses surreale Ergebnis ein emergentes Phänomen ist. Der Erfolg ist nicht durch die Reduktion auf einzelne Bestandteile zu erklären, nicht auf die ausgeklügelte Logistik, nicht auf das Webshop-Design, nicht auf das Kundenbewertungssystem und auch nicht auf die Expansionsschritte mit zig korrespondierenden Geschäftsmodellen. Nur die Passung all dieser und vieler weiteren Komponenten hat den Erfolg ermöglicht. Und das richtige Timing natürlich ebenfalls.

Ich will euch nicht zu nahe treten, denn wir kennen uns trotz diverser Beiträge hier im intrinsify Magazin noch nicht richtig gut. Aber eines weiß ich gewiss: Auch euer Leben ist voll von dieser kontingenten Art der Emergenz. Eure hoffentlich prächtige Gesundheit ist beispielsweise ein emergentes Phänomen. Die grandiose Stimmung auf eurem letzten runden Geburtstag war emergent. Euer beneidenswerter Kontostand ebenfalls. Und natürlich der unerwartete Sieg, den ihr im Tennis bei den letzten Vereinsmeisterschaften errungen habt: welch magische Emergenz.

Und noch weiter: Wirtschaft und Gesellschaft sind voll von kontingenter Emergenz. Der Ertrag eines Maschinenbauunternehmens ist emergent. Das Vertrauen, das bei den Kunden einer Bank entsteht und dann in der Subprime-Krise verspielt wird, ist emergent. Das Arbeitgeberimage als cooler Spieleentwickler am Kölner Rheinauhafen ist emergent. Die hohe Auslastung des Nürnberger Opernhauses ist emergent. Die Einschaltquoten eines analogen Fernsehsenders sind emergent. Der Gewinn einer Fußballweltmeisterschaft ist emergent. Die Wahlbeteiligung an einer Bundestagswahl ist emergent. Das Vertrauen der Bürger in den Staat während einer Pandemie ist emergent.

Jedes Resultat lebendiger Systeme ist emergent. Und damit nicht nur der Erfolg. Der Misserfolg ebenfalls.

Das ist der Grund, warum ich manchen Schlussfolgerungen von Experten und Wissenschaftlern so skeptisch gegenüber geworden bin. Ich kann sehr begeistert sein, wenn mir ein Neurowissenschaftler verblüffende Zusammenhänge des menschlichen Gehirns erläutert. Wenn er dann aber glaubt, den Erfolg von Bayer Leverkusen in der deutschen Fußballmeisterschaft 2024 aus den Gehirnfunktionen des Trainers erklären zu können, dann kann ich ihn leider nicht mehr ernst nehmen. Also den Experten, den Trainer Xabi Alonso schon.

Oder wenn die von vielen Mitarbeitern als euphorisierend beschriebene Unternehmenskultur eines Start-ups darauf zurückgeführt wird, dass die Geschäftsführerin sie so gut vorlebe.

Oder wenn die positive Geschäftsentwicklung des Softwareunternehmens mit der Einführung der „OKR-Methode“ erklärt wird.

Oder wenn der anhaltende Kursverlust eines Pharmariesen auf das antiquierte Menschenbild des CEOs zurückgeführt wird.

Überall führt der Versuch, das Ergebnis durch Reduktion auf seine Bestandteile zu trivialisieren, zu teils fatalen Trugschlüssen. Dem zu widerstehen und Differenzierungsangebote abzugeben, sehe ich als die wesentliche Aufgabe von intrinsify und die große Stärke unserer Denkschule Future Leadership an.

So, es soll noch regnen heute. Dann trinke ich besser meinen Kaffee aus und verziehe mich hier. Am Wochenende geht es mal wieder in die Natur, die magische Emergenz bestaunen.

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Auf ein Glas mit Lars
Wenn ihr selbst auch eine Anekdote zu Führung und Change erlebt habt, die es wert ist, hier erzählt zu werden, so schreibt Lars doch bitte an AufeinGlas@intrinsify.de.
Lars‘ Anekdoten oder Analogien, aus denen er selbst etwas zu moderner Arbeit, Führung, Change oder Organisation gelernt hat. Erzählungen die ihn zum Schmunzeln gebracht, ihn fasziniert und inspiriert haben oder ihm einen kleinen Schauer über den Rücken haben laufen lassen. Und dazu immer ein gutes Getränk.
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