Von freien Radikalen und süßen Ämter
Ich hatte vor ein paar Jahren einen mittelständischen Kunden mit knapp 1000 Mitarbeitern, da arbeitete ein freies Radikal namens Sebastian. Er war ein freies Radikal, weil er das Unternehmen ständig in Unwucht brachte, obwohl er dafür weder ein offizielles Mandat noch eine entsprechende Rolle in der formalen Struktur hatte. Obwohl?
Sebastian war ein großer Fan unserer Arbeit. Er hatte sich in die tiefsten Tiefen des Future Leadership eingegraben und war einer dieser Ausbildungsteilnehmer, der mich mit seinen Fragen manchmal ganz schön ins Schwitzen brachte.
Seine Erkenntnisse wollte er im Unternehmen einbringen, ihm fehlte dazu aber die formale Macht. Also lud er nach Dienstschluss zu inoffiziellen Open Space Veranstaltungen ein; er streute themenbezogene Blogartikel und Podcast-Episoden von uns und anderen; er unterhielt einen Book Club, in dem Interessierte gemeinsam ihre Erkenntnisse aus Büchern besprachen; er war geschätzter Gesprächspartner bei komplexen Projekten und anspruchsvollen organisatorischen Herausforderungen.
Kurzum: Sebastian genoss ein hohes Ansehen und entwickelte sich zunehmend zu einer Schlüsselfigur im Unternehmen. Die zahlreichen WhatsApp Gruppen, zu denen er gehörte, waren ein Spiegel der informellen Netze, die sich um ihn gespannt hatten.
Doch irgendwann läuteten bei mir die Alarmglocken.
Das süße Gift des formalen Amtes
Ich hatte Wind davon bekommen, dass die Personalleiterin sich dafür einsetzte, dass Sebastian endlich den Titel bekommt, den er verdient. In bester Absicht, wollte sie Sebastian zum ersten offiziellen Organisationsentwickler des Unternehmens machen.
Es gab zwar eine Stabsabteilung, die sich um Prozessoptimierung kümmerte, doch da passte Sebastian nicht rein. Sein Einfluss war weitreichender.
Sebastian fühlte sich von den Bemühungen der Personalleiterin geschmeichelt und liebäugelte schon länger mit einer solchen Rolle. Ein Teil in ihm sträubte sich jedoch. Sein Gefühl sagte ihm, dass die Idee einen Haken hatte.
Zurecht. Denn die Süße des Amtes, hätte beinahe darüber hinweggetäuscht, dass sich Sebastian seine Wirkung ganz schön hätte versalzen können, wenn er eine formale Rolle angenommen hätte.
Der Vorstoß hatte sich noch nicht verselbstständigt und so war es uns möglich, dafür zu sorgen, dass die Idee versandete, bevor die Geschäftsführung einen öffentlichen und vermutlich peinlichen U-Turn hätte hinlegen müssen.
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Erwartungsbefreit irritiert es sich besser
Sebastians Arbeitgeber war einerseits pragmatisch mittelständisch, andererseits aber bereits tayloristisch verkalkt.
Mit anderen Worten: Formale Organisationsstrukturen, bürokratische Verwaltungsinstrumente und die davon begleiteten politischen Spielchen verlangsamten die Wertschöpfung und prägten die Vorderbühne dieses Automobilzulieferers.
Sebastians Talent bestand darin, Lerngelegenheiten sowie Räume für Gespräche zu stiften, die sonst nirgends Platz fanden. In den offiziellen Meetings, den Führungskreisen und den Lenkungsgremien war keine Gelegenheit, den Nuancen der komplexen Wertschöpfung Ausdruck zu verleihen.
Wie in so vielen Unternehmen, spielte man sich auf der formalen Vorderbühne im Wesentlichen das Theater der bis in jeden Winkel steuerbaren Organisation vor. Natürlich spürten viele Manager das.
Sebastians Dialogräume halfen dabei, die wichtige Lücke zwischen formalisierter Vereinbarungen und betrieblicher Realität zu schließen. Dort konnte man beispielsweise darüber sprechen, dass die Einführung der Investitionsanträge dazu geführt hatte, dass nicht nur mehr Geld ausgegeben wurde, sondern auch schlechtere Investitionsentscheidungen zustande kamen.
Sebastians Engagement erleichterte es den Mitarbeitern und insbesondere den Führungskräften, das Nötige besprechen zu können, ohne die Erwartungen der Vorderbühne zu verletzen.
Genau hier liegt der springende Punkte: Sebastian konnte deshalb so wirksam sein, weil die von ihm ermöglichte Kommunikation sich gerade nicht den Erwartungen aussetzen musste, denen ein offizielles Gremium folgt.
Führungskräfte konnten hinter dem Vorhang etwas lernen und dann vor dem Vorhang von dem Gelernten Gebrauch machen, ohne es dort besprechen zu müssen.
Hätte man Sebastian ein Amt gegeben, hätte die Situation plötzlich anders ausgesehen. Jetzt wäre er Teil der Gremien gewesen. Er wäre den gleichen Erwartungsstrukturen ausgesetzt. Er hätte die Spiele mitspielen müssen, die formal gespielt werden.
Insbesondere in diesem Fall – und in vielen anderen ist es mir auch so begegnet – wäre die Organisationsentwickler-Rolle eine gewesen, von der sich das Business dissoziiert.
Ein Bereichsleiter wird es sich in vielen Unternehmen aus politischen Gründen nicht leisten, einzuräumen, sein ureigener Job der Wertschöpfungsorganisation sei ihm ohne Hilfe der internen Organisationsentwickler nicht gelungen.
Das war der Charme von „Sebastians Formaten“. Dort konnte man quasi inkognito teilnehmen, etwas lernen, ohne als Lernender wahrgenommen zu werden, Einfluss nehmen, informelle Netze pflegen etc.
Sebastian war also eine Art Katalysator für das Informelle. Sebastians Arbeit zu formalisieren, hätte der Immunapparat nicht vertragen. Mit seiner Beförderung in ein offizielles Amt, wäre ihm seine informelle Gastgeberrolle wie ein Teppich unter den Füßen weggezogen worden.
Denn sich „verstecken“ zu können, war kein Makel, sondern Voraussetzung für seine Wirksamkeit.
Talente verheizen
Wenn Du solche Talente wie Sebastian im Unternehmen hast, was wahrscheinlich ist, dann überleg Dir gut, welche unbeabsichtigten Nebenwirkungen eine gut gemeinte Beförderung haben könnte.
Ein Amt kann natürlich auch nützlich sein, keine Frage. Es kommt immer auf das Unternehmen und das konkrete Amt an. Doch nicht selten verheizen Manager ihre besten Talente dadurch, dass sie ihnen ein Amt geben.
Die meisten Sebastians spüren ein solches Risiko. Deshalb lohnt es sich, mit ihnen darüber zu sprechen, anstatt anzunehmen, sie seien nur durch die nächste Beförderung bei der Stange zu halten.
Danke für diese Geschichte und die daraus gewonnene Inspiration.
Kein Amt, macht Sinn. Beim Lesen fragte ich mich nur:
Kann Sebastian seine doppelte Rolle dauerhaft ausfüllen?
Er braucht seinen eigentlichen Job, eine eigentlichen Aufgaben; nur so hat er die nötigen Dialoge mit Kolleg:innen arbeitet mit Ihnen zusammen, kann seine Impulse bieten etc.
Er braucht zugleich Zeit für die beschriebenen Open Space Veranstaltungen am „Feierabend“, für themenbezogene Blogartikel, Podcast-Episoden und den Book Club.
Kann das lange gut gehen?
In diesem konkreten Beispiel geht es jedenfalls seit Jahren gut. Wenn ein Verhalten funktional ist, findet eine Organisation häufig Wege, um es zu beschützen.
Hallo Mark, danke für den Beitrag. Meine Frage hierzu ist:
Lässt sich nun ableiten, dass wenn immer eine Organisation etwas institutionalisiert (z.B. Organisationsentwicklung) bzw. ein Amt schafft das „Anderen“ (z.B. Führungskräften) helfen soll, es von vornerein zum Scheitern verurteilt ist, da die „Anderen“ sich von diesem Hilfsangebot abspalten/distanzieren? Und das diese Verhalten sich um so stärker zeigt, je nötiger die Organisation diese Hilfe bräuchte?
Für eine Reaktion / Antwort hierauf wäre ich sehr dankbar, da sich dieses Verhalten in der Praxis tatsächlich zuverlässig beobachten lässt.
Nein, das gilt im Umkehrschluss nicht. Es hängt immer davon ab, ob die Funktionalität sich gerade nur deshalb entfalten kann, WEIL sie auf der Hinterbühne der Organisation stattfindet oder eben nicht.