»Auf ein Glas mit Lars«

Gelb-Rot – Absurde Folge eines Torjubels

Warum laute Denkmodelle in komplexen Situationen versagen
Warum die Annahme, man "müsse" Komplexität senken Unsinn ist, versucht Lars Vollmer wieder mit seiner Lieblingsanalogie zu erklären: Fußball!
Lars Vollmer
Mythos Komplexität – Wie ihr garantiert ein Fußballspiel verliert
intrinsify Teammeeting
Mark Poppenborg
Wie unser Teammeeting abläuft
Magische Emergenz
Lars Vollmer
Magische Emergenz
Diese Geschichte könnte auch in Unternehmen spielen
Lars Vollmer
Diese Geschichte könnte auch in Unternehmen spielen
Warum bessere Manager gute Unterscheidungen nutzen
Lars Vollmer
Warum bessere Manager gute Unterscheidungen nutzen

Dritter Spieltag der Bundesligasaison 2012/13: Hannover 96 gegen Werder Bremen. Mit einem Freistoß sorgt Huszti bereits in der sechsten Minute für das 1:0. Nur vier Minuten später bereitet er mit einem Kopfball das 2:0 für Hannover vor. In der 26. Minute führt ein vermeidbares Handspiel zum 2:1 durch Elfmeter. Und in der 74. Minute, nach einem packenden Spiel, gelingt den Bremern endlich der Ausgleich. Doch in der Nachspielzeit dann der entscheidende Treffer für Hannover 96. Ein herrlicher Fallrückzieher von Huszti – und das Ding ist drin! Ein Traumtor!

Was dann passiert, wird als einer der schrägsten, unglaublichsten Momente in die Geschichte der Bundesliga eingehen.

Huszti reißt sich vor Freude das Trikot vom Leib, rennt in Richtung Tribüne, springt über die Bande und klettert auf den Zaun des Fanblocks der 96er, um sich feiern zu lassen. Kaum ist er zurück auf dem Platz, zeigt ihm Schiedsrichter Deniz Aytekin zunächst die Gelbe Karte – für das Entblößen des Oberkörpers – und dann Gelb-Rot, weil er den Zaun erklettert hat! Gerade noch bejubelt, in der nächsten Sekunde vom Platz gestellt und im nächsten Spiel gesperrt. Der arme Huszti kann es nicht fassen. Die 49 000 Zuschauer im Stadion ebenso wenig.

Diese Geschichte ist vor allem deshalb so kurios, weil jeder einzelne Fan im Stadion nach diesem Spielverlauf und dem spektakulären Siegtreffer Husztis ausgelassenen Jubel nachvollziehen konnte. Niemand sah darin ein zu bestrafendes Verhalten. Weder wurde ein Gegenspieler gefährdet, noch gab es ein unsportliches Verhalten. Die Entscheidung des Schiedsrichters war nicht hart, sie war absurd … doch halt!

Wrong Turn!

Deniz Aytekin traf hier überhaupt keine Entscheidung! Der Schiedsrichter »entschied« nichts, sondern wandte schlicht und einfach die Regeln an: »Mir blieb gar nichts anderes übrig, als das durchzuziehen«, lautete später sein Kommentar, in dem hörbares Bedauern mitschwang.

Dieses Bedauern teilt sich Herr Aytekin mit einigen von euch, auch wenn ihr vermutlich selten Bundesliga-Spiele pfeift. Denn Regeln betonieren Wenn-dann-Beziehungen. So wie alles, was auch in Organisationshandbüchern verzeichnet ist. Dort ist eine klare Abfolge von Ereignissen und Reaktionen festgeschrieben, die wenig bis gar keinen Spielraum für »Entscheidungen« lässt! Fallrückzieher in der letzten Spielminute rechtfertigen da keine Sonderregel. Ein Oder, Ob oder Vielleicht ist nicht ausgeschlossen, geschieht aber auf eigene Gefahr. Denn das Wenn-dann-Prinzip kennt typischerweise nur den Weg der geradlinigen Exekution, wie die Umstände sich auch immer entwickelt haben mögen.

Der Knackpunkt ist: Wenn ihr euch – ob nun als Schiedsrichter, Team-Leiter oder Top-Entscheider – nach solchen Regelwerken richtet, dann entscheidet eben gar nicht ihr selbst. Dann seid ihr weder Richter noch Entscheider, sondern eher eine Art Vollstrecker. Ihr überlasst jemand anderem die Entscheidungskompetenz, indem dieser die Regeln beschließt und für gültig erklärt. Von diesem Moment an sind das Denken und Entscheiden für alle anderen ausgeschaltet. Der Stein rollt ins Tal, komme, was da wolle.

Die meisten Unternehmen haben sich mit einer ganzen Armada solcher Entscheidungs-Vernichtungs-Instrumente umgeben: feste Prozesse, fixierte Umsatz- und Kostenpläne, turnusgerechte Mitarbeitergespräche, Checklisten, Gesprächsleitfäden, Beförderungsrichtlinien, Stellenbeschreibungen, Besprechungsregeln, Reisekosten-Verordnungen, usw.

Unternehmen und Organisationen, die sich solchen Praktiken und Handlungsmustern unterworfen haben, sind – bitte im übertragenen Sinne zu verstehen – nichts anderes als Kugelbahnen, wie sie kleine Kinder gerne zum Spielen geschenkt bekommen: Oben kommt eine Kugel rein – unten kommt sie wieder raus. Klick-klack. Die Kugel läuft immer dieselbe Bahn. Immer dieselbe Wendung.

Darauf werden Kinder schon von klein auf getrimmt: Für Schulen existieren verbindliche Lehrpläne, die für jede Klassenstufe klar definierten Lernstoff festschreiben. Unterschiedliche Entwicklungs- und Wissensstände der Schüler in der Klassenstufe? Interessieren bestenfalls den Lehrer, den Lehrplan aber nicht. Besonderheiten der Schulklasse, zum Beispiel der Anteil von Migrantenkindern oder Hochbegabten? Fehlanzeige. Besondere Situationen? In der Regel nicht vorgesehen. Den Lehrern geht es nicht anders als dem Schiedsrichter Deniz Aytekin: Regel ist Regel, Plan ist Plan. Entscheidungsspielraum: äußerst gering, sonst gibt es Ärger, vom Amt oder von den Eltern.

5. Klasse, zweites Halbjahr: Neandertaler. Klick-klack. Trikot-Ausziehen plus Jubel am Zaun: Gelb plus Gelb-Rot. Klick-klack. Für die Überarbeitung der Preisliste ist die Vertriebsabteilung zuständig. Klick-klack. Der Sachbearbeiter im Einkauf darf nur bis 5000 Euro bestellen. Klick-klack. Für den Kauf eines Diktiergeräts braucht es die Genehmigung von oben. Klick-klack. Bei Geschäftsreisen sind öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Klick-klack.

Klick-klack. Crash.

Solche Handlungsvorgaben zähle ich zu der Gattung der »lauten Modelle«. »Wenn A, dann B!« Klick-klack. Das Problem dabei: Diese Vorgaben regeln alles und lenken alles in gewohnte Bahnen. Ihr habt es dabei mit einem Automatismus zu tun, der jeden Fall, jedes Ereignis und jede Konstellation gleich behandelt. So wie eine Ampel stur nach einem festen Rhythmus den Verkehr regelt. Das Denkmodell bzw. die Praktik oder Regel hat eine neue Rolle bekommen: Es ist so »laut«, dass es befiehlt.

Leider können Regeln nicht denken. Wozu auch? Klick-klack.

Um nicht missverstanden zu werden: Regeln sind ein probates Mittel und funktionieren hervorragend – WENN sie nicht mit zu vielen Überraschungen umgehen müssen, wenn es also nicht zu komplex wird.

Ein brauchbares Modell für komplexe Situationen dagegen muss stumm sein. Das heißt konkret: Soll es für komplexe Situationen taugen, dann sollte ein Modell höchstens ein Werkzeug sein, das beim Denken hilft – so wie beispielsweise ein Prinzip. Aber es sollte niemanden davon entbinden, selber zu denken und Entscheidungen vorwegzunehmen.

Der immense Vorteil dieser »stummen Modelle« liegt darin, dass sie den Benutzer nicht erblinden lassen. Im Gegenteil – sie weisen ihm Verantwortung zu und gewähren ihm so die Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln, schlauer zu werden.

Anmerkung: Der Artikel erschien erstmals im Jahr 2016 im deutschen Ableger der amerikanischen Huffington Post und wurde für die Neuveröffentlichung im intrinsify-Magazin umfänglich überarbeitet.

Dich könnte auch dieser Artikel interessieren: »Welches Spiel spielt Dich?«
Autor
Diskussion
0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments
Auf ein Glas mit Lars
Wenn ihr selbst auch eine Anekdote zu Führung und Change erlebt habt, die es wert ist, hier erzählt zu werden, so schreibt Lars doch bitte an AufeinGlas@intrinsify.de.
Lars‘ Anekdoten oder Analogien, aus denen er selbst etwas zu moderner Arbeit, Führung, Change oder Organisation gelernt hat. Erzählungen die ihn zum Schmunzeln gebracht, ihn fasziniert und inspiriert haben oder ihm einen kleinen Schauer über den Rücken haben laufen lassen. Und dazu immer ein gutes Getränk.
News von intrinsify

Starte in die intrinsify Welt, indem Du Dich zu unseren News anmeldest. Jeden Donnerstag neue Impulse zu moderner Unternehmensführung und Organisationsentwicklung.

Special Edition: Virtuell & Präsenz

Werde Organisations­designer und bringe
mehr Agilität in Dein Unternehmen.

In 5 Monaten zu mehr Wirksamkeit in Deiner Rolle.
Schneller geht’s nicht!
100% praxisnah bullshitfrei vernünftig
freisteller lars mark elli phillipp

GUTE IDEEN...

für wirksame und bullshitfreie Arbeit
Starte in die intrinsify Welt. Jeden Donnerstag nützliche Impulse zu moderner Unternehmensführung & Organisationsentwicklung.

Rubriken

Unternehmen

Die intrinsify Ausbildung
Die intrinsify Ausbildung

FUTURE LEADERSHIP

Löse Führungsprobleme, die andere noch nicht mal verstehen.

Die intrinsify Ausbildung

FUTURE LEADERSHIP

Löse Führungsprobleme,
die andere noch nicht mal verstehen.

DEIN PERSPEKTIV­WECHSEL AUF CHANGE

Nimm an 2 kostenlosen Live Sessions der intrinsify Ausbildung teil, die Deinen Blick auf Change komplett verändern.
Mehr erfahren

Unternehmens­kultur entwickeln

Donnerstag, 29. August 2024
16.00 Uhr – 18.00 Uhr

Kostenlos. Live. Online.

Unternehmens­kultur entwickeln

Donnerstag, 29. August 2024
16.00 Uhr – 18.00 Uhr – Kostenlos. Live. Online.

100% praxisnah bullshitfrei vernünftig

GUTE IDEEN...

für wirksame und bullshitfreie Arbeit
Starte in die intrinsify Welt. Jeden Donnerstag nützliche Impulse zu moderner Unternehmensführung & Organisationsentwicklung.
Start in...
00
Tage
00
Std
00
Min
00
Sek

WIR FÜHREN ANDERS!

Das Digitale Live-Event

Denkanstöße für Deine Führung, die wachrütteln, inspirieren und anstecken.

LIVE-WEBINAR

Du willst mehr Agilität in Deinem Unternehmen? Dann bist Du hier richtig.

Was ist eigentlich Future Leadership?

WIR FÜHREN ANDERS!​

Das Digitale Live-Event

Denkanstöße für Deine Führung, die wachrütteln, inspirieren und anstecken.

GUTE IDEEN...

für wirksame und bullshitfreie Arbeit
Starte in die intrinsify Welt. Jeden Donnerstag nützliche Impulse zu moderner Unternehmensführung & Organisationsentwicklung.
Die intrinsify Ausbildung