Ich kriege häufig zu hören, dass man für Selbstorganisation einen ganz bestimmten Mitarbeitertyp bräuchte. Es wolle nämlich nicht jeder Verantwortung übernehmen, heißt es. Manche Menschen bräuchten jemanden, der ihnen sagt, wo es lang geht.
Ich behaupte: Die Arbeit in einem – nennen wir es mal – post-tayloristischen Unternehmen ist erfrischend leicht im Vergleich zu den Herausforderungen, die im Traditionsunternehmen zu bewältigen sind.
Doppelagenten im Einsatz
In der packenden und hochkarätig besetzten Neuauflage der John le Carré Verfilmung „Dame, König, As, Spion“ aus dem Jahre 2011 kann man sich ein Bild davon machen. Oder in den aktuellen Nachrichten. Ich bleibe aber lieber bei der Fiktion.
In dem Film muss sich der von Colin Firth gespielte Maulwurf Bill Haydon als britischer Agent ausgeben, während er eigentlich dem KGB dient. Ein einsames Leben ohne Mitgefühl oder Anerkennung. Geprägt von ständiger Angst und einem nahezu unmöglichen Balanceakt zwischen zwei Welten. Kommt Dir das bekannt vor?
Als Mitarbeiter in einem sehr traditionell geführten Unternehmen kann es einem oft genauso gehen wie einem Doppelagenten. Wie das kommt? Ich will versuchen, es zu erklären.
FUTURE LEADERSHIP
Löse Führungsprobleme, die andere noch nicht mal verstehen.
Es ist nicht so wie es scheint
Auf dem Papier ist alles ganz klar: Morgens reinkommen, Einstempeln, Prozesse befolgen, Anweisungen entgegennehmen, Projektpläne abarbeiten, Checklisten abhaken, im Meeting reporten, Ausstempeln, fertig. Der Kopf ist frei, die Freizeit kann genossen werden.
Denn man hat das ja vorher alles genau berechnet. In der Jahresplanung wurden Ressourcenbedarfe gemeldet und Budgets verteilt, die Ziele wurden bis auf jeden Mitarbeiter herunter kaskadiert, sodass alles schön ineinander greift. Die Mitarbeiterkapazitäten wurden genau kalkuliert: Philipp arbeitet 30% in der Linie, 45% im Projekt A und 20% in Projekt B. So die Idee.
Schön wär’s. Denn so ist es ja nicht. Und das wissen wir irgendwie auch alle. So überraschungsfrei weltfremd geht es nur in der mechanistisch geprägten BWL-Denke zu, die uns nach wie vor eine Steuerungs- und Kontrollillusion suggerieren will.
Jeder, der ein traditionell geführtes Großunternehmen von innen gesehen hat, weiß: Es gibt noch ein zweites Spiel. Das realere Spiel sozusagen. Da wo die echte Arbeit passiert. Bloß kann man die Scheinwelt nicht ungestraft ignorieren, denn schließlich hat sie ihren Ursprung in der formalen Struktur, also da wo die Macht sitzt. Sie auszublenden hätte womöglich große Konsequenzen.
Und so sehen sich Mitarbeiter in traditionell geführten Unternehmen (die in einem dynamischen Markt agieren) dazu gezwungen, zum Doppelagenten zu werden.
Sie zeigen ein erwartungskonformes Verhalten auf der formalen „Vorderbühne“, während sie gleichzeitig ein abweichendes Problemlösungsverhalten auf der informellen „Hinterbühne“ liefern.
Und das, ja das ist echt harte Arbeit. Das Doppelspiel eines traditionell geführten Unternehmens spielen zu können, erfordert ein besonderes Können. Bis man ein Gefühl dafür entwickelt hat, wie man sich den Rücken frei hält, um die Wertschöpfung in Gang zu halten, können Jahre vergehen.
Ohne Kreativität, Verhandlungsgeschick, Reflexionsfähigkeit, sehr viel Geduld und ein gehöriges Maß an Selbstwertgefühl kann man an dieser Herausforderung schnell zugrunde gehen. Ganz so wie ein Doppelagent.
Bloß sieht man dieses Talent von oben nicht. Aus dem Management-Cockpit sieht alles nur aus wie Chaos und mangelnde Kooperationsbereitschaft. »Wenn die schon in einem geregelten Betrieb keine Verantwortung übernehmen können, wie soll es dann mit der Selbstorganisation klappen?«
Die Befreiung der Doppelagenten
Aber wenn Du einen Doppelagenten erstmal entfesselst und er nicht mehr in ständiger Zerrissenheit leben muss, dann kann sein wahres Potenzial sichtbar werden. Dann muss er sich nicht mehr verstecken.
Ein Mitarbeiter in einem post-tayloristischen Unternehmen hat es viel leichter. Er arbeitet ja im menschlichen Normalzustand. Natürliche Hierarchiebildung, flexible Aufgabenverteilung, problembezogenes Lernen und eine „normale“ uncodierte Sprache brauchen wir nicht zu lernen. Das können Menschen schon seit zehntausenden von Jahren. So kommen wir auf die Welt. Man muss uns nur lassen.
So wundert es auch nicht, warum die meisten Menschen sich in einem modernen Arbeitsumfeld viel wohler fühlen.
„Willst Du Konventionen folgen oder selbst denken?“
An dieser Stelle wird oft behauptet, dass uns das Ausbildungssystem und die ersten Berufsjahre die für die Selbstorganisation nötigen Fähigkeiten abtrainieren würden. Wirklich verlieren tun wir sie aber nie. Sie werden nur von einer gesellschaftlichen Konditionierung überlagert, die man wieder entlernen muss. Und das geht schnell, wenn man erstmal im „richtigen“ Umfeld arbeitet.
Fazit
Wer es ausgehalten hat, in einem traditionell geführten Unternehmen zu arbeiten, ohne innerlich zu kündigen, der hat echtes Können bewiesen. Denn er hat nicht nur die Schauspielschule des Business-Theaters gemeistert, sondern dabei auch noch die ohnehin schon anspruchsvollen Anforderungen der Wertschöpfung befriedigt, ohne dass es zu sehr auffällt.
Das ist eine hohe Kunst. Und solche Künstler können selbstverständlich auch in einem Unternehmen arbeiten, wo man sich nicht ständig bürokratische Steine in den Weg legt und sich verbiegen muss.
Denn wieso sollte es schwerer sein, ein unmittelbar einleuchtendes Spiel zu spielen als ein unsinnig und widerspruchsgeladenes?
Ich bleibe also dabei:
Wenn ich mich als Geschäftsführer über meine Mitarbeiter beklage, attestiere ich mir damit nur das eigene Führungsversagen. Mitarbeiter bedienen den Rahmen, der ihnen zur Verfügung gestellt wird. #NeueWirtschaft #Führung
— Mark Poppenborg (@MarkPoppenborg) 12. März 2018
„Doppelagent“ – bei diesem griffigen Gleichnis gehe ich gleich in Resonanz. Denn so ähnlich fühlte ich mich oft während meiner Konzernzeit. Auf der Hinterbühne arbeiteten wir inhaltlich, kooperierten informal mit Kollegen anderer Abteilungen und brachten Projekte vorwärts. Auf der Vorderbühne waren jedoch sinnlos exaktes Planen, Tracken, Reporten und die Einhaltung formaler Schnittstellen angesagt. Vertrauen? Fehlanzeige. Immerhin hielt ich den Kollegen meines Teams durch Vorderbühnen-Spiele weitgehend den Rücken frei.
Manchmal konnte ich jedoch nicht verhehlen, dass mir Problemlösung und Zusammenarbeit mehr am Herzen liegen als Formalien und Organigramme. Dann bekam ich zu spüren, dass es auf der Vorderbühne weder um Wertschöpfung noch um Menschen geht, sondern um Macht.
Das Doppelspiel habe ich als frustrierend und energiefressend erlebt. Inzwischen genieße ich es, meine eigene Chefin zu sein. Ich teile deine Meinung, dass Menschen die Konditionierung zum „Business-Theater“ ganz schnell wieder entlernen, wenn sie sich in modernen Arbeitsumwelten entfalten können. Vielen Dank für den anregenden Artikel!
Vielen Dank, Mark. Dieser Artikel bringt diesen Punkt wunderbar zum Ausdruck. Sobald man Führungskräfte auf Selbstorganisation anspricht, kommen immer diese reflexartigen Sprüche, die ich schon nicht mehr hören kann: „Ich habe auch einige Mitarbeiter, die wollen nicht selbstverantwortlich arbeiten. Nicht wenige sind froh, wenn man ihnen sagt, was sie zu tun haben.“.
Von Mitarbeiterseite hört sich das anders an: „Nun soll ich dem Chef auch noch diese Arbeit/Verantwortung abnehmen. Solange es ein starkes Gehaltsgefälle gibt, sehe ich das nicht ein.“
Natürlich liegt der Beobachtungsfehler nahe, dass die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sich nicht selbst organisieren wollen und scheuen Verantwortung zu übernehmen. Wer genau hinhört wird feststellen, dass sie schon wollen, aber die (Gehalts-)Strukturen als dafür unpassend ansehen. Ist die Notwendigkeit andere führen zu müssen nur noch eine tradierte und sich selbst-erhaltende Theorie? Was wohl passieren würde, wenn man die Gehälter angleichen würde?