Im ersten Teil hatte ich euch zwei Geschichten erzählt. Von der Beraterin, die stets glaubte, eine Methode hätte sie erfolgreich gemacht, dabei war es anders herum: Ihr individuelles Können hatte die Methode erfolgreich gemacht. Und von dem cholerischen Geschäftsführer mit Mundgeruch, der bei seiner Kündigung ein ganz spezielles Können mitnahm, das dem Unternehmen Millionen gebracht hatte und jetzt plötzlich weg war.
Können zeichnet sich durch zwei wesentliche Bestandteile aus:
- Könner kommen unter dem Druck komplexer Probleme einer sehr spezifischen Domäne auf lösungstaugliche Ideen. Und diese Ideen funktionieren. Nicht immer, aber häufiger als bei anderen Akteuren.
- Die Ideen der Könner kommen in Resonanz mit der relevanten Gruppe. Auch das nicht in jedem Einzelfall, aber eben wieder häufiger als andere Ideen.
Zwei Fragen schließen sich nun an:
Erstens: »Ist nicht jeder irgendwie ein Könner?«
Meine Antwort: wenn mit der Frage im Kern gemeint ist, ob nicht alle Mitarbeiter im Unternehmen irgendwie wertvoll sind, wenn damit also in erster Linie eine humanistische Haltung hinterfragt wird, dann eindeutig: Ja.
Und ungestört von der Moral würde ich antworten: Nein, denn Könnerschaft ist etwas höchst kontextsensibles. Ein Beispiel: Lisa ist die Könnerin, wenn es um die Gestaltung des großen Messestandes geht. Sie hat in den letzten Jahren einen herausragenden Blick dafür nachgewiesen, welche Angebote beim Publikum resonieren, welche Gestaltungselemente des Standes besonders viel Aufmerksamkeit in der Halle binden und dass der pittoreske Espresso-Wagen jetzt im sechsten Messejahr irgendwie ausgelutscht ist und etwas anderes hermuss. Sie hat auch schon eine Idee, was es sein könnte.
Andere im Marketing-Team haben auch Ideen, völlig klar. Aber Lisas haben bisher am besten funktioniert, auch wenn sie schon einmal vor vier Jahren ziemlich daneben gelegen hat.
Natürlich ließe sich argumentieren: Wir können es doch auch mal mit den Ideen von Paul probieren, das ist doch eigentlich ein ganz netter. Aber das Risiko des Scheiterns ist hoch. Und wenn der Messerfolg über dem Partizipationsanspruch steht, dann sind vermutlich Lisas Ideen die bessere Wahl.
Womit ich nicht sagen möchte, dass es Paul vielleicht deutlich besser als Lisa versteht, eine Plakatkampagne zu gestalten. Nur, das ist so kurz vor der Messe gar nicht das zu lösende Problem.
Die zweite Frage lautet: »Wie wird man Könner?« oder etwas direkter: »Wie schaffst Du Könner in einer ganz bestimmten Domäne?«
Die Frage ist schon deshalb so interessant, weil die Beobachtung von Könnern eine Täuschung provoziert. Lasst mich euch dazu gedanklich kurz in die Kunst entführen.
Für die großen Künstler scheinen keine Regeln zu bestehen. Sie widersetzen sich sprichwörtlich „nach allen Regeln der Kunst“ den Methoden ihres Genres.
Zum Beispiel der legendäre Maler Jackson Pollock, der mit Pinsel oder gleich dem ganzen Farbeimer scheinbar willkürlich Farbspritzer auf riesige Leinwände katapultierte und es verwegen „Action Painting“ nannte. Von wegen sauberer Bildaufbau, Motivtreue oder Farbharmonie. Das schien ihn alles nicht interessiert zu haben.
Oder der derzeit wohl spektakulärste Tennisspieler auf dem Planeten, Carlos Alcaraz aus Spanien. Für mich ist er auch ein Künstler, nicht nur ein Sportler. Seine Grundschläge führt er meist oft recht klassisch, also nach „Lehrbuch“ aus. Wird er aber vom Gegner unter Druck gesetzt, schießt er aus den absurdesten Positionen heraus Passierschläge am Gegner vorbei, die „man“ physikalisch und motorisch so eigentlich überhaupt nicht schlagen kann.
Oder die von mir außerordentlich verehrte Jazz-Bassistin Meshell Ndgeocello. Obwohl sie 2021 einen Grammy erhielt, ist ihr der große kommerzielle Durchbruch (noch) nicht gelungen – aber nun gut, sie spielt ja auch Jazz, das ist eher was für Nerds wie mich. Wenn ihr doch interessiert seid: Hört euch mal ihr Mega-Album »Plantation Lullabies« von 1993 an. Dort zaubert sie bis dato ungehörte Bassgrooves und mixt sie mit ihrer rauchigen Stimme. Sie bricht mit vielen Konventionen in Rhythmik und Tonalität und es klingt trotzdem nicht schräg oder konfus. Und auf den Aufbau einzelner Titel würde Meshell im Kompositionsstudium vermutlich die Note 5 erhalten. Trotzdem: sehr geil – wenn ihr mich fragt.
In allen Beispielen scheint sich das Prinzip zu wiederholen, dass ich schon im ersten Teil herausgeschält habe: Könner agieren eben nicht nach einem Standard, sie befolgen keine Methoden. Ihr Können besteht gerade in ihrer kontextspezifischen Intuition und lässt sich nicht (oder sagen wir: kaum) in Regeln pressen. Und sollten sie erfolgreich werden – das ist ja weder bei Künstlern noch bei Könnern in Unternehmen garantiert – bewundern ihre Anhänger die Ideen, die Kreativität und die Improvisation, nicht etwa die Methodentreue.
Also gilt: F*** the rules!
Und genau da liegt die Täuschung.
Weil Vokabeln lernen nicht reicht!
FUTURE LEADERSHIP TRAININGSCAMP
Denn typischerweise werden Könner nicht als Talente geboren, sondern gemacht. Also sie machen sich selbst zu Könnern. Der Psychologe Anders Ericsson von der Florida State University hat 1993 erstmals anhand von Geigern nachweisen können, dass die besten Violinisten bis zu ihrem 18. Geburtstag im Durchschnitt mindestens 7.400 Stunden diszipliniert geübt haben.
Der amerikanische Autor Malcom Gladwell 2007 hat die Erkenntnisse in seinem Bestseller »Outliners« (in Deutsch: »Überflieger«) populärwissenschaftlich vereinfacht und zum Beispiel aus 7.400 Stunden einfach mal zehntausend Stunden gemacht – lässt sich einfacher merken. Aber im Kern bleibt es dabei:
Menschen erhöhen die Wahrscheinlichkeit sich zu Könnern zu machen dramatisch, wenn sie lange und diszipliniert Üben.
Das „lange“ ist sofort einleuchtend. Mir kommt es hier auf das „diszipliniert“ an, was bedeutet, dass es in jeder Phase möglichst unmittelbares Feedback auf das Geübte braucht. Reine Wiederholungen des Falschen führen nur marginal zu Verbesserungen.
Und siehe da, dieses Muster zeigt sich auch bei Pollock, Alcaraz und Ndgeocello. Alle drei kennen die Grundlagen ihrer Kunst, sie haben mal mit und mal ohne Lehrer gelernt, wie es „richtig“ geht. Sie kennen die Gesetze ihrer Zunft. Alle drei haben zigtausend Stunden immer und immer wieder geübt. Oft nach methodischer Vorgabe von Trainern oder Lehrern. Eben nach Methode. Nach Lehrbuch. Und sie bekamen sofort Feedback. Später, als sie das Niveau ihrer Lehrer erreicht und übertrumpft hatten, übten sie weiter. Und auch dann sorgten sie bewusst oder unbewusst für fast sofortiges Feedback. Dann durch Kritiker, Galeristen, Gegenspieler, Mitspieler, Konzertbesucher, Plattenkäufer usw.
Ich halte es für einen modernen und auch sehr teuren Mythos, dass Könner Methoden ausweichen. Im Gegenteil: sie nutzen sie, um überhaupt zu Könnern zu werden. Und sie fordern von ihren Lehrern immer wieder Methoden ein, um die Übungsstunden möglichst effektiv zu nutzen.
Wenn ihr also einem anderen Mensch die Möglichkeit geben wollt, zum Könner in einer Domäne zu wachsen, dann lasst ihn zunächst diszipliniert Methoden, Regeln und Grundlagen lernen. Triezt ihn und lasst nicht locker, bis er alles kennt, was man kennen muss. Erst danach provoziert ihr ihn mit den Überraschungen der Realität, damit er seine Intuition ausbilden kann. Und vergesst nicht das klare und unmissverständliche Feedback in jeder Phase.
Oder kürzer: Erst »Follow the rules« und danach »F*** the rules«
Das Prinzip kenne ich unter dem Namen Shu-Ha-Ri.