Ich habe einen Kumpel, der sich selbst vor einigen Jahren aus dem Hamsterrad des Agenturlebens befreit hat und eine eigene Firma gegründet hat. Das Ziel: Nicht mehr länger Zeit gegen Geld tauschen und endlich echte Probleme der Kunden lösen. Nicht mehr länger nur To-dos abarbeiten. Seine besondere Stärke: Er ist gut und er ist schnell. Und seine Projektabwicklung ist es auch.
Und: Er ist sehr erfolgreich. Soweit ich das beurteilen kann, wächst seine Organisation stetig – sowohl was die Mitarbeiterzahl angeht, als auch in Bezug auf den wirtschaftlichen Erfolg. Seine Kunden sind namenhaft, seine Erfolge absolut beeindruckend. Apps, an denen schon seit Jahren „rumentwickelt“ wurde, bringt er mit seinem Team in 6 Wochen in den Store.
Ab und an telefonieren wir und sprechen über seine Organisation. In letzter Zeit höre ich immer öfter von ihm: „Wir sind an einem kritischen Punkt angelangt, wir sind mittlerweile viele Leute, es ist alles irgendwie chaotisch und an so vielen Punkten ineffizient.“
Ein ganz typisches Phänomen: So lange eine Organisation klein ist, scheint Chaos ein irgendwie sympathischer Zug zu sein. Mark hat dazu in einem LinkedIn Post den Vergleich mit dem Erwachsenwerden gezogen und ich möchte das gerne aufgreifen.
Die Kindheit: Dynamik vs. Chaos
Bei Kindern finden wir ein bisschen Chaos normal und auch wenn es uns Erwachsene manchmal nervt, gehört es eben zum „Kind sein“ dazu. Wenn der Bub oder das Madl dann aber größer wird, ist „chaotisch sein“ irgendwie nicht mehr angesagt. Es gibt schließlich Regeln und an die haben auch sie sich zu halten. Im schlimmsten Fall, einfach „weil ich, als Elternteil, das eben so sage“… (es dir, liebes Kind, aber leider nicht erklären kann. Ich mache es auch nur, weil meine Eltern das schon so gemacht haben und es außerdem gesellschaftlich als „normal“ gilt).
Genauso ist es auch bei Organisationen. Wenn sie noch kleine Start-ups sind, ist es irgendwie cool, wenn alles etwas chaotisch läuft. Ist es nicht genau das, was wir mit einem halb ironischen, halb neidischen Blick meinen, wenn wir das Bild eines typischen Start-ups in Berlin-Kreuzberg zeichnen? Cooler Flow, Teamspirit und eben sehr viel Dynamik. Jeden Tag passiert was Neues: Hier kommt der Kunde mit neuen Wünschen, dort ist was schief gelaufen, Feuer löschen, Feste feiern, Repeat…
Solche jungen Organisationen werden einerseits belächelt, so wie ein rebellisches Kind („Er oder sie soll sich ruhig mal die Hörner abstoßen“), weil wir es anders gewohnt sind und das Gefühl haben, dass dort einige Effizienzgewinne verloren gehen. Wir sind vielleicht aber auch neidisch, weil das gute Gefühl bei der Arbeit sofort für jeden sichtbar ist. Es kribbelt schon beim Zuschauen in den eigenen Fingern. Möglicherweise erinnern wir uns auch an unsere eigene „berufliche Jugend“ zurück, in der wir ein solches Gefühl bei der Arbeit hatten.
Wenn jetzt aber nun unser kleines Start-up wächst, kommt es irgendwann an einen Punkt, an dem das Chaos als „zu viel“ empfunden wird. Das Kind soll sich nun langsam an die Regeln der Erwachsenen halten. Das Management zieht die Reißleine. „Jetzt wird hier mal Struktur reingebracht in dieses Chaos. Wir werden professionell!“
Das Problem dabei: Das Symptom, das da als Chaos empfunden und bewertet wird, ist sehr wahrscheinlich zumindest in Teilen der Umgang der Organisation mit der Dynamik des Marktes. Will sagen: Wenn es wirklich irgendwo Chaos gibt, also Tätigkeiten ineffizient geregelt werden, obwohl es klar definierbares und vor allem reproduzierbares Wissen dafür gibt, dann macht es bestimmt Sinn, hier mal „für Ordnung zu sorgen“. Wenn es allerdings Tätigkeiten sind, die einer hohen Dynamik im Außen ausgesetzt sind, dann sollte man genau das lieber lassen.
Erwachsen werden: Nachahmen und aus Fehlern lernen
Die Folge der Professionalisierungsinitiativen sind häufig die Einführung hauptsächlich tayloristisch geprägter Managementinstrumente. Es werden Abteilungen gegründet, Prozesse definiert und Regeln eingeführt. Das kreative Chaos wird in händelbare, scheinbar kontrollierbare und vor allem von oben als solche erkennbare Bahnen gelenkt. Wie man das halt so macht in einer professionellen Organisation. Ich könnte auch überspitzt sagen: „Weil ich als [BWL, Managementberater, Uni,…] das eben so sage“…(es dir, liebes Start-up, aber leider auch nicht wirklich erklären kann, es machen aber alle so und es wird im wirtschaftlichen Kontext als „normal“ angesehen.)
Wenn jetzt nicht differenziert wird zwischen Chaos und Dynamik und die neue, strukturierte Ära der Professionalisierung in allen Bereichen der Organisation gleichermaßen eingeführt wird, besteht die Gefahr, dass die Teile der Organisation, die die Freiheitsgrade in der Binnenstruktur benötigen, um der Dynamik im Außen zu begegnen, genau diese Fähigkeit verlieren. Dann erzieht man dem Unternehmen mit der Einführung scheinbar professioneller Managementpraktiken die Fähigkeit ab, auf Dynamik reagieren zu können. Die Binnenkomplexität der Organisation passt dann nicht mehr zur Komplexität des Marktes.
Klingt theoretisch logisch, ist aber in der Praxis oft sehr schwer. Das eine (Chaos) vom anderen (Dynamik) zu unterscheiden, ist nämlich deutlich schwerer als es aussehen mag. Denn: Auch der Umgang mit Dynamik sieht von oben oder außen schnell wie Chaos aus. Und fühlt sich wahrscheinlich für alle außerhalb des Teams, welches ganz direkt mit der Marktdynamik konfrontiert ist, auch so an. Erst Recht, wenn man als „oben“ (Management) oder „außen“ (Politik) denkt, dafür verantwortlich zu sein.
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Erwachsen sein: Abgrenzung und Eigenverantwortung
Ziehen wir wieder den Vergleich mit dem Erwachsenwerden. Meine persönliche Definition von Erwachsenwerden ist die kritische Auseinandersetzung mit sich, dem was man in der Familie als normal erlebt hat und im besten Falle verschiedener alternativer Lebensmodelle, die man kennen gelernt hat und die Ideen provozieren.
Ich fange als junger Mensch irgendwann an, das, was mir von meinen kindlichen Bezugspersonen, meist der Ursprungsfamilie, als normal gezeigt wird, zu hinterfragen. Manches übernehme ich auch einfach unreflektiert, was normal ist und funktional, weil es zunächst Komplexität reduziert. Wenn ich jedoch eine Erfahrung mache, wo ich mit diesem „Normal“ nicht mehr weiterkomme, gibt es nun 2 Optionen:
- Ich fange an mit meinem „Normal“ immer wieder gegen dieselbe Wand zu rennen. Man könnte also sagen, ich lebe das Leben meiner Eltern, nur in einer anderen Zeit und einem anderen Umfeld.
- Ich reflektiere, was da gerade passiert ist, hinterfrage mein „Normal“, schaue mir an wie andere das machen und treffe irgendwann die Entscheidung mein Leben so zu leben, wie ich es FÜR MICH und JETZT für richtig erachte.
Genau das sollten junge Organisationen auch machen:
- Hinterfragen, an welcher Stelle das „Normal“ der anderen in die eigene Unternehmensrealität und das individuelle Umfeld passt.
- Sich die Teile herauspicken, die für die eigene Wertschöpfung im eigenen Umfeld richtig erscheinen. Und die Teile lassen, bei denen das nicht so ist.
- Sich zu informieren, welche Alternativen zu den klassischen Managementinstrumenten es gibt.
- Sich nicht auf Methoden zu verlassen (weder auf die tayloristischen, noch auf die neuen, agilen).
- Verstehen, wie Organisationen funktionieren und dann den eigenen Unternehmenskopf anstrengen und die für sich selbst passende Lösung zu suchen, also selbstständige, eigenverantwortliche und erwachsene Entscheidungen zu treffen.
Zurück zur Organisation meines Kumpels: Ich glaube, sie stehen gerade an einem ganz entscheidenden Punkt ihres organisationalen Wachstums. Sie können jetzt entweder jeden Evolutionsschritt durchmachen, den die anderen alle gemacht haben und sich als nächstes in funktionaler Differenzierung üben. Oder sie treffen sofort eigene Entscheidungen, die auf mehr beruhen als dem Nachahmen der vermeintlich erwachsenen Unternehmen. Denn: Wer will schon das Leben von jemand anderem leben?